1
Es war einmal ein Mann, der herumzog und kleine Mausefallen aus Stahldraht verkaufte. Er verfertigte sie selbst in seinen Musestunden, und das Material erbettelte er sich in Kramläden oder in den größeren Bauernhöfen, so daß die Herstellungskosten so gering als möglich waren. Aber dessenungeachtet war das Geschäft wohl nicht besonders einträglich, und er mußte es bisweilen mit Betteln und Stibitzen probieren, um nur sein Leben zu fristen. Auch das wollte nicht recht reichen. Die Kleider hingen ihm immer in Fetzen vom Leibe, die Wangen waren eingefallen, und der Hunger leuchtete ihm aus den Augen.
Niemand kann sich vorstellen, wie öde und einförmig das Leben eines solchen Wandersmanns zu verlaufen pflegt, aber manchmal passierte ihm doch das eine oder andere Abenteuer, das sein Dasein ein wenig erhellte. So erblickte er, als er eines dunklen Abends unterwegs war, eine kleine graue Hütte, die dicht am Wegesrand lag, und klopfte an, um Nachtherberge zu erbitten. Die wurde ihm auch nicht verweigert. Ja, anstatt der saueren Mienen, die ihn sonst zu begrüßen pflegten, wenn er in eine Stube kam, schien der Eigentümer, der ein freundlicher alter Mann ohne Weib und Kind war, sehr erfreut, daß jemand ihm in seiner Einsamkeit Gesellschaft leisten wollte. Vor allem einmal stellte er den Breitopf auf das Feuer und bot ihm ein Abendbrot. Dann schnitt er von einer Tabaksrolle so viel herunter, daß es zum Stopfen der Pfeife des Fremden und seiner eigenen langte, und schließlich nahm er ein altes Kartenspiel hervor und spielte mit dem Gast bis zur Schlafenszeit Sechsundsechzig.
So freigebig er mit Grütze und Tabak gewesen war, war er auch mit seinem Vertrauen. Noch bevor das Wasser im Kessel aufkochte, hatte der Gast schon erfahren, was für ein Mann er war und wie es ihm erging. In den Tagen seiner Kraft war er Tagelöhner auf dem Gute Ramsjö gewesen. Jetzt, wo er nicht mehr arbeiten konnte, war es seine Kuh, die ihn ernährte. Mitten im Spiel legte er mehrmals die Karten weg, um von dieser Kuh zu erzählen, die so maßlos viel Milch gab. Er brachte sie jeden Tag in die Meierei, und vorigen Monat hatte er ganze dreißig Kronen dafür eingeheimst.
Der fremde Mann mußte wohl ein mißtrauisches Gesicht gemacht haben, als er dies hörte, denn der Alte sprang gleich auf, ging zum Fenster und nahm einen Lederbeutel herunter, der an einem Nagel am Fensterkreuz hing. Er kramte drei zerknitterte Zehnkronenscheine heraus, hielt sie dem Gast vor die Augen, nickte bedeutsam und steckte sie wieder in den Beutel.
Am nächsten Tage standen die beiden Männer frühzeitig auf. Der Kätner hatte es eilig, seine Kuh zu melken und die Milch in die Meierei zu tragen, und der andere fand wohl nicht, daß es sich so recht schickte, liegenzubleiben, wenn sein Gastgeber aufgestanden war. Sie verließen also gleichzeitig das Häuschen. Der Kätner sperrte die Tür zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Der Mann mit der Mausefalle sagte dank schön und behüt Gott, und damit wanderte jeder nach einer anderen Seite von dannen.
Aber als eine halbe Stunde vergangen war, stand der zerlumpte Hausierer wieder vor dem Häuschen. Er versuchte nicht hineinzukommen. Er ging nur zum Fenster, zerklopfte eine der Scheiben, steckte die Hand hinein und erfaßte den Beutel mit dem Geld. Dann nahm er die drei Zehner heraus und steckte sie zu sich. Hierauf hängte er den Lederbeutel fein säuberlich an seinen Platz zurück und verschwand in den Wald.
Als der Mausefallenhändler mit dem Geld in der Tasche weiterwanderte, fühlte er nicht die gewohnte Genugtuung über einen gelungenen Streich. »Das ist doch ein Hundeleben,« seufzte er, »pfui Teufel, stehlen müssen, um nur am Leben zu bleiben. Es macht mir eigentlich nichts aus, den Bauern und den Herrschaften etwas zu stibitzen, aber wenn's über einen hergeht, der beinah ein ebenso armer Schlucker ist wie unsereins selbst, da kriegt man einen ganz bitteren Geschmack im Mund.«
Das Unbehagen, das er empfand, wurde noch durch den Gedanken verstärkt, daß er jetzt eine Zeitlang die große Heerstraße vermeiden und sich auf einsamen Seitenwegen durch die Wälder schleichen mußte, bis er in einen anderen Teil des Landes kam.
»Ja, ja, so geht's, wenn eins immer nur ans tägliche Brot denken muß,« murmelte er. »Hätte der Kerl nicht soviel Verstand haben können, sein Geld einzustecken, wenn er von daheim weggeht! Ich hab' ja nichts gegen ihn gehabt, er ist besser zu mir gewesen als irgendwer anderer, aber wenn er mir das Geld gerad in den Weg wirft, so muß ich's ja nehmen.«
Er hatte im Laufe des Tages noch mehr als einmal Anlaß, so zu klagen, denn es war ein großer, irrsamer Wald, in den er da gekommen war. Freilich versuchte er die ganze Zeit eine bestimmte Richtung einzuhalten, aber die Pfade schlängelten sich hin und her. Er hatte beinahe das Gefühl, daß er sich immer nur rings im Kreise drehte und überhaupt nicht vom Fleck kam.
Er ging und ging den ganzen Tag, ohne daß der Wald sich lichtete. Spät im Dezember, wie es nun war, wurde es schon gegen fünf Uhr dunkel, und nun begann eine Wanderung in der Finsternis über Stock und Stein, Sumpf und Morast, die wirklich schauerlich zu nennen war. Der Mann hielt sich, solange er konnte, aufrecht, aber schließlich sank er auf den Waldboden nieder, ganz aufgelöst von Müdigkeit.
Aber im selben Augenblick, in dem er den Kopf auf die Erde bettete, hörte er ein Geräusch. Ein hartes, regelmäßiges Pochen. Da war kein Zweifel möglich. Er setzte sich auf. »Das ist ein Eisenhammer,« sagte er. »Hier müssen Leute in der Nähe sein.«
Mit dem Aufgebot seiner letzten Kräfte erhob er sich und begann dem Laut nach weiterzuwanken.
2
Das Eisenwerk Ramsjö, das nun so ziemlich aufgelassen ist, stand dazumal in voller Blüte, mit Schmelzöfen, Walzwerk und Gießerei. Schwere Prahme und Jollen drängten sich zur Sommerszeit auf dem vorbeigleitenden Kanal, und im Winter waren die Straßen weit im Umkreis schwarz von dem Kohlenstaub, der aus den beständig dahingleitenden Kohlenfuhren herabrieselte.
In einer der langen dunklen Nächte gerade vor Weihnachten saßen der Schmiedemeister und sein Gehilfe in der schwarzen Schmelzschmiede und warteten darauf, daß das Eisen, das in der Esse erhitzt wurde, weißglühend genug war, um auf den Amboß gelegt zu werden. Von Zeit zu Zeit stand einer von ihnen auf, um Kohlen in den Ofenrachen zu schaufeln, oder um mit einem langen Eisenspieß in die glühende Masse zu stoßen, und kam dann nach einigen Augenblicken schweißbedeckt zurück, obwohl er nach hergebrachtem Brauch nichts anderes anhatte, als ein langes Hemd und ein Paar Holzpantinen.
Die ganze Zeit war die Schmiede von Geräuschen erfüllt. Der große Blasebalg knackte, die brennenden Kohlen knisterten. Der Kohlenjunge, der unaufhörlich Kohlen hereinbrachte, die er in die Kohlengrube schleuderte, hatte ein knirschendes Rad an seinem Karren.
Vor den Mauern donnerte der Wildbach, und ein barscher Nordwind schleuderte prasselnde Regenschauer gegen die Ziegel des Schmiededaches.
So war es nicht zu verwundern, daß die Männer erst merkten, daß ein Wanderer die Türe geöffnet hatte und in die Schmiede gekommen war, als er dicht vor ihnen stand.
Aber sicherlich war es für sie nichts Ungewohntes, daß arme Landstreicher, die kein besseres Nachtquartier gefunden hatten, von dem Lichtschein angelockt wurden, der sich durch die geschwärzten Scheiben hinausstahl, und in die Schmiede kamen, um die Wärme des Herdes zu genießen und sich für ein paar Stunden der Ruhe auf dem mit Kleinkohle bedeckten Erdboden auszustrecken. Sie warfen dem Neuangekommenen nur einen gleichgültigen Blick zu. Ja, ja, das war wieder einer von der üblichen Sorte, langbärtig, abgerissen und schmutzig, mit Schuhen, die sich von den Füßen trennen und den weiteren Dienst versagen wollten.
Auch wandten sie weiter kein Mitleid an ihn. Wenn ein Mann, der nicht mehr als vierzig zu sein scheint und dazu groß und gut gebaut ist, sich durchbettelt, anstatt seine Hände zur Arbeit zu gebrauchen, so geschieht ihm schon ganz recht. Keiner von ihnen dankte für den Gruß des Mannes, und auf seine Frage, ob es erlaubt sei, ein bißchen zu bleiben und sich zu wärmen, erwiderte der Schmiedemeister nur mit dem allerherablassendsten Blick.
Es half nicht viel, daß der Wandersmann das Bündel Mausefallen, die über seiner linken Schulter hingen, höher auf die breite Brust hinaufschob, so, als rückte er einen Ordensstern zurecht. Nein, die Schmiede wollten sich durchaus nicht einreden lassen, daß er etwas anderes als ein gewöhnlicher Bettler war, und ließen sich nicht herab, ihm ein Wort zu schenken.
Der Mausefallenhändler verhielt sich ebenfalls still. Worauf es ihm ankam, war ja nicht, zu schwatzen, sondern in der Schmiede zu bleiben und sich zu wärmen.
Aber damals wurde das Werk Ramsjö von einem prächtigen Besitzer geleitet, der keinen höheren Ehrgeiz hatte, als wirklich gutes Eisen auf den Markt zu bringen, und Tag und Nacht darüber wachte, daß die Arbeit in dem Werk auf die beste Weise verrichtet wurde. Und der kam gerade jetzt auf einer seiner gewöhnlichen Nachtrunden in die Schmiede.
Das erste, was er sah, war natürlich der hochgewachsene Landstreicher, der sich so nahe dem Ofen niedergehockt hatte, daß der Dampf von seinen durchnäßten Lumpen aufstieg.
Und er warf ihm nicht nur einen gleichgültigen Blick zu wie die Schmiede, sondern ging dicht an ihn heran und betrachtete ihn prüfend. Und plötzlich riß er ihm den Schlapphut vom Kopfe, um ihm besser in die Augen sehen zu können.
»Aber das bist du ja selbst, Niels Olof,« rief er. »Wie du aussiehst!«
Der mit den Mausefallen hatte den Gutsherrn von Ramsjö nie im Leben gesehen und wußte nicht einmal, wie er hieß. Aber er sagte sich sofort, daß, wenn dieser feine Herr ihn für einen alten Bekannten hielt, er ihm vielleicht ein paar Kronen schenken würde, und darum wollte er ihn nicht gleich wieder aus seinem Irrtum reißen.
»Ja, mit mir ist's bergab gegangen, weiß Gott,« sagte er.
»Du hättest eben nie deinen Abschied vom Regiment nehmen sollen,« sagte der Gutsherr. »Das war der ganze Fehler. Wenn ich nur noch aktiv gewesen wäre, hätte das nie geschehen dürfen. Aber jetzt kommst du natürlich mit zu mir nach Hause?«
Aber mit in den Herrenhof zu kommen und dort als alter Regimentskamerad des Besitzers empfangen zu werden, das war nicht so recht nach dem Geschmack des Mausefallenhändlers.
»Aber nein, aber nein,« sagte er und sah gewaltig erschrocken drein. »Das geht keinesfalls –«
Als der andere sah, daß er sich so zierte, begann er hellauf zu lachen.
»Du darfst nicht glauben, daß es bei mir daheim so hochherrlich zugeht, daß du dich da nicht zeigen kannst,« sagte er. »Elisabeth ist tot, das hast du vielleicht gehört, die Jungens sind im Ausland, und so hausen nur ich und meine älteste Tochter auf dem Herrenhof. Wir haben uns gerade darüber beklagt, daß wir in den Feiertagen so ganz allein sein werden. Komm jetzt, dann wird wenigstens den Weihnachtsspeisen mehr Ehre angetan werden!«
Aber der Fremde blieb bei seinem nein, nein, nein, und als der Gutsherr in ihn drang, schien er drauf und dran, die Flucht ergreifen zu wollen. Da sah der Gutsherr, daß da nichts zu machen war.
»Mir scheint, Rittmeister von Stahle will heute nacht lieber bei dir bleiben, Stjärnström, als zu mir kommen,« sagte er zum Schmiedemeister, »da mußt du ihm schon Nachtlogis geben.«
Damit ging er, leise lachend, seiner Wege, und die Schmiede, die ihn gut kannten, wußten wohl, daß er noch nicht sein letztes Wort gesprochen hatte.
Es dauerte auch nicht mehr als eine halbe Stunde, als sie das Rollen von Wagenrädern hörten und ein neuer Gast zur Türe hereinkam. Aber diesmal war es nicht der Hüttenherr selbst, der kam, sondern er hatte seine Tochter geschickt, offenbar in der Erwartung, daß ihre Überredungskunst größer sein würde. Sie kam herein, von einem Bedienten gefolgt, der einen großen Herrenpelz trug. Sie war durchaus nicht schön zu nennen, sie sah unansehnlich und scheu aus, und ihr Blick war ernst und schwermütig.
In der Schmiede sah es ungefähr so aus wie zuvor. Der Schmiedemeister und der Gehilfe saßen noch auf ihrer Bank, und im Ofen knisterte und brannte es. Der Fremde hatte sich auf dem Boden ausgestreckt. Er lag da, einen Eisenklumpen unter dem Kopf, den Hut über dem Gesicht.
Sowie die Gutsbesitzerstochter ihn erblickt hatte, ging sie auf ihn zu und hob den Hut von seinem Gesicht. Der Mann war wohl einer von jenen, die es gewohnt sind, nur mit einem Auge zu schlafen, er war augenblicklich wach und stand sofort vor ihr.
»Ich heiße Edla Willmanson,« sagte das junge Mädchen. »Mein Vater sagte, daß der Herr Rittmeister heute nacht hier in der Schmiede schlafen will, und da bat ich ihn, herfahren und den Herrn Rittmeister mit zu uns nach Hause bringen zu dürfen. Es tut mir so leid, daß der Herr Rittmeister es so schwer hat. Mein Vater sagte, daß der Herr Rittmeister das Regiment wegen Gewissensskrupeln verlassen hat.«
Sie heftete ihren tiefen Blick mit mitleidiger Bewunderung auf ihn. Und der zerlumpte Kerl dachte bei sich selbst, daß, wenn die seinen Herrschaften sich soviel Mühe machten, damit er zu ihnen käme, es wohl undankbar von ihm wäre, sich weiter zu spreizen. Es konnte ja ganz schön sein, einmal im Leben in einem Herrschaftsbett zu schlafen.
»Das hätte ich mir aber doch nie gedacht, daß das gnädige Fräulein selbst sich die Mühe machen wird, meiner wegen bei der Nacht in die Schmiede zu kommen,« sagte er, »ja, dann geh' ich halt doch mit.«
Damit nahm er den Pelz, den ihm der Bediente mit einer tiefen Verbeugung reicht, warf ihn über seine Lumpen, und ohne den erstaunten Männern in der Schmiede auch nur einen Blick zu gönnen, ging er an der Seite des jungen Mädchens zum Wagen hinaus.
3
Der nächste Tag war der Heilige Abend. Und als Hüttenherr Willmanson zum Frühstück in den Speisesaal kam, dachte er mit erwartungsvoller Freude an den alten Regimentskameraden, der ihm so recht gelegen und passend in den Weg gekommen war.
»Jetzt soll er sich zuerst ordentlich bei uns anessen,« sagte er zu seiner Tochter, die irgend etwas auf dem Speisetisch ordnete, »dann will ich schon dafür sorgen, daß er eine bessere Beschäftigung findet, als im Lande herumzuziehen und Mausefallen zu verkaufen.«
»Es ist doch merkwürdig, wie rasch es mit ihm bergab gegangen ist,« sagte die Tochter. »Gestern erinnerte aber auch gar nichts an ihm daran, daß er ein gebildeter Mann ist.«
»Warte nur, mein Kind,« sagte der Vater. »Wenn er nur erst ordentlich herausgeputzt ist, wirst du schon anders sprechen. Gestern war er befangen, verstehst du? Die Vagabundenmanieren fallen mit den Vagabundenkleidern.«
Gerade als der Hausherr dies sagte, ging die Türe auf, und der ehemalige Mausefallenhändler kam herein. Ja, das war sicher. Herausgeputzt war er. Der Bediente hatte ihm die Haare geschnitten, ihn rasiert und gebadet, er war so rein, daß er förmlich blinkte. Außerdem trug er ganze Schuhe und Strümpfe, ein weißes Hemd mit einem gestärkten Kragen und einen hübschen Sakkoanzug, den der Gutsherr von Ramsjö ihm geliehen hatte.
Aber obgleich er so fein herausstaffiert war, schien der Hausherr nicht recht zufrieden. Er betrachtete seinen Gast mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Denn man muß bedenken, als er den fremden Mann in dem flackernden Feuerschein der Schmiede erblickte, hatte er ihn freilich leicht verwechseln können, aber nun er ihn rein gewaschen und rasiert bei vollem Tageslicht vor sich sah, gab es keine Möglichkeit mehr, ihn für einen alten Bekannten zu halten.
»Was soll das heißen?« brüllte er ihn an.
Der andere machte keinen Versuch, sich zu verstellen. Er begriff sofort, daß die Herrlichkeit jetzt ein Ende hatte.
»Ja, gnädiger Herr, da kann ich nix dafür,« sagte er. »Ich hab' mich nie für was anderes ausgegeben als für einen armen Kesselflicker, und ich hab' gebeten und gebettelt, daß man mich in der Schmiede lassen soll. Und es ist ja weiter kein Unglück passiert, ich zieh halt meine alten Lumpen wieder an und mach' mich auf den Weg.«
»Nun ja,« sagte der Hüttenherr etwas gedehnt, »aber ein ehrliches Vorgehen war das doch nicht, das mußt du doch einsehen. Und vielleicht hätte der Dorfrichter auch noch ein Wörtchen in die Sache dreinzureden.«
Der Landstreicher kam nun ein paar Schritte näher heran und schlug mit der Faust auf eine Stuhllehne.
»Ich werd' dem gnädigen Herrn sagen, wie die Geschichte ist,« sagte er. »Die ganze Welt ist nix anderes als eine große Mausfalle. All das Gute, was man einem gibt, das sind nur so Speckschwarten und Käsebrocken, hingelegt, um einen armen Teufel ins Verderben zu bringen. Und wenn jetzt der Dorfrichter kommen und mich auch noch ins Loch sperren soll, dann soll der gnädige Herr lieber dran denken: es kann ein Tag kommen, wo er selber Lust auf so ein schönes Speckstückel kriegt und sich in der großen Mausfalle fangt.«
Der Gutsherr lachte.
»Weißt du was, du Schlingel. Das war gar nicht so übel gesagt. Wir wollen den Dorfrichter am Weihnachtsabend vielleicht lieber in Ruhe lassen. Aber schau jetzt, daß du weiterkommst!«
Doch als der Mann sich zur Türe wandte, ergriff die junge Gutsbesitzerstochter das Wort: »Ich finde, er sollte heute bei uns bleiben,« sagte sie. »Ich will nicht, daß er geht.« Und damit trat sie vor und stellte sich dem Landstreicher in den Weg.
»Was um Himmels willen fällt dir ein?« fragte der Vater.
Die Tochter stand mit ganz roten Wangen da und wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Seht, morgens hatte sie sich so schön ausgemalt, wie sie es so recht gut und weihnachtlich für den armen verhungerten, verwilderten Menschen, der zum Heiligen Abend zu ihnen gekommen war, einrichten wollte. Sie konnte sich nicht so plötzlich von diesen Gedanken losreißen, und so hatte sie gebeten, daß der arme Landstreicher bei ihnen bleiben dürfe, damit sie doch das Fest für irgend jemanden feiern konnte.
»Ich denke an diesen Wandersmann,« sagte das junge Mädchen. »Er geht und geht das ganze liebe Jahr, und sicher gibt es auf der ganzen Erde kein Fleckchen, das er sein nennen, keinen Ort, an dem er willkommen ist und in Frieden ruhen kann. Gehetzt und vertrieben wird er wohl überall, wo er hinkommt. Immer hat er Angst, eingefangen und seiner Freiheit beraubt zu werden. Ich wünschte, er fände doch hier bei uns einen Tag des Friedens. Einen einzigen im ganzen Jahr.«
Gutsbesitzer Willmanson murmelte etwas in seinen Bart. Er konnte sich nicht recht aufraffen, der Tochter entgegenzutreten.
»Es mag ja sein, daß das Ganze ein Irrtum war,« sagte das junge Mädchen, »aber jedenfalls finde ich, wir können den nicht fortweisen, den wir zu uns gebeten und dem wir eine Weihnachtsfreude versprochen haben.«
»Du predigst ja ärger als ein Pfaff,« sagte der Gutsherr. »Nun ja, ich will nur hoffen, daß du das, was du tust, nicht zu bereuen hast.«
Da nahm die Gutsbesitzerstochter den fremden Mann bei der Hand und führte ihn zum Eßtisch.
»Setz dich nun nieder und iß mit uns,« sagte sie, denn sie merkte ja, daß der Widerstand des Vaters gebrochen war.
Der Mausefallenhändler hatte die ganze Zeit über kein Wort gesagt, und auch jetzt verhielt er sich still. Aber er sah das junge Mädchen, das sich so für ihn eingesetzt hatte, nur immer an. Was sie für ihn getan, war etwas so Wunderbares, daß es ihn ganz verstummen ließ.
Dann verging dieser Weihnachtsabend auf Ramsjö ungefähr ebenso wie alle anderen Weihnachtsabende. Man hatte nicht viel Mühe mit dem fremden Gast, denn er tat eigentlich nichts anderes als schlafen. Den ganzen Vormittag lag er auf dem Sofa des Fremdenzimmers und schlief in einer Tour. Um die Mittagszeit wurde er geweckt, damit er von all den Weihnachtsspeisen mitessen konnte, aber dann schlief er weiter. Es war, als hätte er seit Jahr und Tag keinen guten und erquickenden Schlummer gefunden, bis er nun hierher gekommen war.
Am Nachmittag, als der Christbaum angezündet wurde, weckte man ihn abermals, und da stand er nun ein Weilchen und sah blinzelnd in die Weihnachtskerzen, und als die Weihnachtspolka gespielt wurde, tanzte er eine Runde herum. Aber die Augen fielen ihm dabei zu, und er verschwand wiederum. Einige Stunden später wurde er noch einmal gestört. Er sollte in den Speisesaal herunterkommen und Fisch und Grütze mit ihnen essen.
Doch kaum war man vom Tisch aufgestanden, ging er von einem zum andern, gab die Hand und sagte danke und gute Nacht.
Als er zu dem jungen Mädchen kam, sagte sie ihm, ihr Vater wünsche, daß er die Kleider, die er anhatte, als Weihnachtsgeschenk betrachte. Er brauchte sie nicht zurückzugeben. Und wenn er am nächsten Weihnachtsabend in ein Haus kommen wollte, wo er sich in Frieden ausruhen und sicher sein konnte, daß ihm nichts Böses widerfuhr, so möge er zu ihnen kommen.
Der Mann erwiderte nichts darauf. Er sah die Gutsbesitzerstochter nur mit derselben unermeßlichen Verwunderung und Bestürzung an.
Am nächsten Morgen standen Hüttenherr Willmanson und seine Tochter schon in aller Frühe auf, um zur Weihnachtsmette zu fahren. Ihr Gast schlief noch immer, und man ließ ihn schlafen. Es wäre unbarmherzig gewesen, ihn zu stören.
Als sie gegen zehn Uhr zurückkamen, ließ das junge Mädchen den Kopf noch tiefer hängen als gewöhnlich. Sie hatte in der Kirche gehört, daß einer der früheren Taglöhner des Guts von einem Kerl bestohlen worden war, der herumging und Mausefallen verkaufte.
»Ja, das ist ja ein netter Geselle, den du da ins Haus gebracht hast,« sagte der Vater. »Ich möchte wissen, wie viele silberne Löffel jetzt noch in unserem Büfett liegen.«
Kaum war der Wagen vor der Freitreppe stehengeblieben, als der Gutsherr sich beeilte, den Bedienten zu fragen, ob der Fremde noch im Hause sei, und er fügte hinzu, sie hätten in der Kirche gehört, daß er ein Dieb sei. Der Bediente erwiderte, der Mann sei fort, aber er habe nichts mitgenommen. Vielmehr habe er ein kleines Päckchen zurückgelassen, das das gnädige Fräulein die Güte haben möge, einem alten Mann zu senden, der einmal Taglöhner auf dem Gute gewesen war und jetzt auf der anderen Seite des Waldes an der großen Landstraße lebte.
»Er bat, das gnädige Fräulein sollte das Päckchen zuerst öffnen,« sagte der Bediente.
Das junge Mädchen riß den Umschlag auf und stieß einen kleinen Freudenschrei aus. Sie hatte eine kleine Mausefalle gefunden, in der drei zusammengerollte Zehnkronenscheine lagen.
»Da siehst du, Papa,« sagte sie. »Er ist allerdings in die Falle geraten, aber diesmal ist es ihm doch gelungen, wieder herauszukrabbeln.«
Selma Lagerlöf, 1858 - 1940