Wie lange diese Nacht währt!
„Noch nicht Morgen?“
„Nein“ – so trübe die Nachtlampe brennt, das sieht man doch, das Himmelbett der Eltern ist wohl leer, aber noch frisch aufgemacht, wie am Abend – sie sind noch gar nicht schlafen gegangen. Es ist kalt – husch! in die Kissen zurück! Die Eisblumen am Fenster, die sich immer dichter mit wunderbar verschlungenen Ranken und Blätter überziehen, gestatten dem Sterne, der mit so eigenem funkeln vom Himmel sieht, kaum noch den Einblick ins Zimmer. Draußen aber knistert der Schnee unter dem Tritte des Wächters oder kreischt laut vor Entsetzen über die frevelhafte Entweihung, wenn ein verspäteter Frachtschlitten die Gleise befährt, die der Frost nicht für irdische Fuhren so spiegelblank geputzt. Horch! Schon wieder dies geheimnisvolle Regen! und immer lebendiger wird es. Bald ist es wie behutsame Gewichtigkeit einer Männersohle, die sich Mühe gibt, leise zu treten, bald wie Rauschen von Frauenkleidern; bald knacken verräterische Treppenstufen, bald klingt es wie klappende Schranktüren oder wie Schiebladen, die auf – und zugehen, bald wie ein Flüstern und Räuspern im Flurgange; jetzt stößt es an, wie wenn große, schwere Kisten getragen werden, oder es fällt gar zu Boden und rollt die Diele entlang, ganz so wie ein Schachteldeckel. Dabei steht das Himmelbett noch immer unberührt. – „Wenn die Auguste Rademacher doch recht hätte! Wenn es doch die Eltern selbst wären, und nicht der Engel die Bescherung brächte!“
Furchtbarer junger Zweifler im Ausschiebebettstellchen, vermessener kleiner Fibelfaust, verzehre dich nicht in vergeblichem Grübeln über das Unfassbare, von dem wir einmal nichts wissen sollen und nichts wissen können. Ist dir der Friede deiner Seele lieb, lege dich ruhig wieder hin und schlummere den Schlummer gläubiger Unschuld wie dein Schwesterchen, dem das große Geheimnis der Nacht keine andere Unruhe verursacht, als dass es wie ein Fragezeichen sein Beinchen über das Deckbett streckt.
Mitternacht ist vorüber, vom Turme haben Choralklänge die alte Himmelbotschaft verkündet: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!
Der Nachtlampe Docht fängt an zu verkohlen, das Öl wird knapp, und das Wasser, auf dem es schwimmt, ist ein schlechter Feuerwerker; prasselnd, zischend, spritzend fährt das Flämmchen noch einmal auf, gerade hell genug, erkennen zu lassen, dass nun auf den Stühlen an dem Himmelbett Kleider liegen; dann ist alles finster und still. „Noch immer nicht Morgen?“
„Noch lange nicht. Soll ich dir meine Hand geben? Willst du ein Schlückchen Wasser? – So, nun lege dich auf die andere Seite und schlafe weiter.“
„Auch jetzt noch nicht?“
„Nein. Schlafe nur ganz ruhig, du wirst schon geweckt werden.“
Die Sonne wusste recht gut, weshalb sie gestern Abend so frühzeitig in die entlegenste Südwestecke hinab sank, sie hat einen weiten Weg unten um die ganze Erde herum, ehe sie wieder aufsteigt im Osten. Der Zeit aber ist das ganz recht, sie will wieder einbringen, was in den übergeschäftigen letzten Tagen an rennender Hast zuviel geschah, oder will sie, im demütigen Gefühl ihrer Endlichkeit, ganz und gar vom Posten gehen und der Ewigkeit selbst die Ehrenwache bei den hochheiligen Mysterien überlassen? Dennoch schwingt der Pendel, die Zeigerrücken, der Goldhammer hebt sich, wenn die schleichende Stunde endlich vollbracht ist.
Der Hahn wird unruhig auf seiner Latte, obwohl er weder selbst Bescherung erwartet, noch für seine Familie heimlich aufgebaut hat. Er krähte schon mehrmals und lässt sich nicht länger irre dadurch führen, dass noch Mond und Sterne scheinen, er hat die Uhr im Kopfe. Die Hoftüre wird geöffnet, der Widerhall des Hauses erwacht vom Scharren des Kehrbesens, benutzt aber, verschlafen wie es alle sind nach den vielen Störungen in der Nacht, jede kleine Pause, abermals einzunicken zur köstlichen Nachtruhe. Es poltert im Ofen, Kleider werden geklopft, der wache Morgen schreitet immer dreister einher, dringt immer weiter vor in das Gebiet der Träume und ruft endlich, das blendende Licht in der Hand: „Kinder, steht auf!“ Endlich, endlich ist es Morgen! Morgen, der aber doch immer noch Nacht ist, der einzige Morgen des ganzen Jahres, an dem auch die kleinsten der kleinen Leute bei Lichte aufstehen – dies allein schon ein Ereignis, eine Tat, ein Wunder – das reine Märchen! Nicht selten müssen sehr kräftige Erweckungsmittel angewandt werden, um die fesselnde Kraft der „himmlisch“ warmen Betten zu überwinden. Heute fährt das gesamte Aufgebot der Kinderbeine beim ersten Aufruf zugleich heraus – wie ein Bein, und die Schnelligkeit des Ankleidens wird nur von der fröhlichen Verwirrung, die sie erzeugt, übertroffen – und gehemmt. Endlich trotz aller Konfusion fertig gekleidet, fügen sich die Kleinen, die doch sonst nicht genötigt werden brauchen, nur der kategorisch festgehaltenen Weisung, erst noch ruhig zu frühstücken.
Welch ein Zauber für die Kinderseele, eben wieder erstanden aus dem Schlummer, rein und klar wie der sternhelle Morgen, in der ganzen, unberührten Frische eines neuen Tagesleben, das noch kein, wenn auch nur in unbewusster Trübung nachwirkender, schnell vergessener Streit, keine paradiesaustreibende Unart entstellte – der höchste Freude des Jahres entgegenzugehen! Welch ein Zauber in der Verschmelzung der Reize aller Tageszeiten und der entgegengesetztesten Stimmungen, in dieser Nachtdunkel, strahlendes Kerzenlicht und Morgenweihe, Entzücken und Andacht in eins verwebenden, gleichsam zeitlosen Wunderwelt! Welch ein Zauber, wenn beim wohlbekannten Klange des Silberglöckchens die Türflügel aufgehen, von unsichtbarer Hand bewegt, als wären es wirklich geflügelte Türen, und die stürmisch Herbeigeeilten, geblendet von all dem Glanze, nun doch im ersten Augenblick wie erstarrt auf der Schwelle stehen bleiben, bis der Eltern ermunterter Zuruf zum Nähertreten auffordert – welch ein Zauber, wenn der ersten allgemeinen Freude die jubelnde Besitzergreifung folgt, wenn ein jeder gerade das findet, was er „sich am meisten gewünscht“ – die Mädchen ihre Puppen, die sie gar nicht mehr aus dem Arme lassen, die Knaben Trommeln und Trompetchen, deren lustiger Schall den fernen Ruf der Glocken zur Frühpredigt doch nicht stört – welch ein Zauber, wenn den Zweigen des Christbaumes jener eigentümliche Duft entströmt, der, mit keinem anderen Wohlgeruch vergleichbar, noch in der der Erinnerung so magisch wirkt, dass die Kinder schon wochenlang vor dem nächsten Feste jeden verlöschenden Wachstock, von Wonneschauern mit Vorahnung durchrieselt, begrüßen: „Es riecht nach Weihnachten!“ Welch ein Zauber auch dann noch, wenn endlich die Fensterladen aufgemacht, die Vorhänge zurückgeschlagen werden und die letzten tief herab gebrannten, immer matter brennenden Lichtchen im Tannengrün die Morgenröte bescheint. Wie das glüht im Osten, wie die Wolken sich türmen gleich goldigen Schneebergen über den Nachbarhäusern, wie die Rauchsäulen so purpurdurchleuchtet empor wallen! Es ist wie Opferdampf flammender Zedernscheite, der auf seinen Schwingen die Andacht heiliger Beter empor trägt, nicht wie Rauch aus gemeinen Kaminröhren, von gewöhnlicher Feuerstätten, auf denen klafterweise gekauftes Birken- und Kiefernholz brennt, und Kaffee gekocht wird wie alle Tage. – Und von der Höhe dieses morgens die Aussicht nicht wie bei der Abendfeier auf das immer zu frühe Zubettgestecktwerden, nein – auf einen ganz langen Tag, dessen frommes Gebot festlicher Muße die Spiel – und Naschfreuden gleichsam zu einer Gewissenspflicht macht!
Rudolf Reichenau, 1817 - 1879