Während draußen vor den Fenstern die Menschen in schwarzem Gedränge sich vorüberschoben, als wäre die ganze Stadt in Bewegung und Aufruhr, lagerte die Stimmung schläfriger Langweile innerhalb der grell erleuchteten Mauern eines geräumigen Kaffeehauses. Nur zwei von den wenigen Gästen schienen diese Stimmung nicht zu teilen. Sie saßen in einer Ecke des weiten Saales an einem kleinen Tisch. Der eine von ihnen, der in seinem Äußern den vermöglichen Mann verriet, trug schon das Grau des Alters über der hohen Stirne. Ruhiger Ernst war der Ausdruck seines glattrasierten Gesichtes und seine stahlblauen Augen hafteten mit gespannt forschenden Blicken auf den heftig erregten, wie in Fieberröte brennenden Zügen seines Gegenübers. Das war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, eine stramme, kräftig entwickelte Gestalt. Ein weiches Gemüt und die feste Entschlossenheit des erprobten Arbeiters sprachen in seltsamer Mischung aus seinem Gesichte, das von braunen, struppigen Haaren umrahmt war. So saßen sich die beiden wortlos gegenüber.
Endlich brach der Ältere das Schweigen: „Nun, Herr Schaller? Wissen Sie denn gar keine Antwort zu finden?“ Wie erschrocken fuhr der Angeredete mit dem Kopf in die Höhe. „Nein, nein und nein! Ich tu’s nicht – und wenn sie mir eine Millionen anbieten – ich tu’s nicht! Das war mein erstes Wort, und das ist auch mein letztes!“ „So seien sie doch vernünftig, Schaller, und – sprechen sie ein wenig leiser. Ich streite ja nicht gegen Ihre Gewissenhaftigkeit – im Gegenteil, sie gefällt mir – ; aber praktisch sein, ist auch eine schöne Sache. Und übrigens, ich will ja nicht verlangen, dass Sie mir das Geheimnis geradewegs verkaufen sollen. Gott bewahre! Mir ist es nicht um das zu tun, was Sie seit acht Tagen wissen, sondern um Sie selbst, lieber Schaller. Sie sind ein kluger Kopf und ein besonders tüchtiger Arbeiter. Solche Leute kann ich brauchen in meiner Fabrik; sie sind mir Gold wert. Seien Sie vernünftig, kommen Sie zu mir, ich biete Ihnen die Inspektorstelle in meiner Fabrik an. Ich gebe Ihnen das Doppelte von dem, was Sie bei Seydelmann & Komp. beziehen, und mache mit Ihnen einen zehnjährigen Vertrag, mit jährlich steigendem Gehalt.“
Auf dem Gesichte den jungen Mannes wechselte Röte und Blässe. Er musste jedes dieser langsam und eindringlich gesprochene Worte vernommen haben und dennoch hingen seine Blicke wie geistesverloren an den drei elfenbeinernen Kugeln, die auf dem nächsten Billardtisch inmitten des grünen Tuches lagen. Und da kam es ihm vor, als wären die beiden weißen Kugeln die zarten, lieben Gesichter seiner zwei kleinen Mädchen, und die rote Kugel erschien ihm wie das gesunde, pausbäckige Gesicht seines herzliebsten Buben. Und diese drei Gesichter schauten ihn an mit großen, ängstlichen Augen und diese Augen schienen zu sprechen: „Vater, um Gottes willen, Vater, lass dir nur ja nichts einreden von dem schlechten Kerl! Schau, was hättest denn davon, wenn du einen Haufen Geld im Kasten liegen hättest und könntest deinen Kindern und der Mutter nimmer grad in die Augen schauen! Lass dir nichts einreden Vater!“ Mit einem jähen Ruck sprang der junge Mann von seinem Stuhl empor, streckte das zorngerötete Gesicht mit den blinzelnden Augen weit über den Tisch und stammelte mit heiserer Stimme: „Und das Weitere, meinen Sie, das wird sich dann schon finden? Wenn Sie mich erst mal auf zehn Jahre in Ihren Händen hätten, dann könnten Sie mich schon so lange kneten und bearbeiten, dass mir schließlich nichts andres übrig bliebe, als ein Schuft zu werden und Ihnen das Fabrikationsgeheimnis meines jetzigen Herrn zu verraten.“
Zornig packte er seinen Hut, stülpte ihn über die gesträubten Haare, stapfte mit langen Schritten davon und schoss zur Türe hinaus. Die Augen auf das beschneite Pflaster gesenkt, so stürmte er heimwärts. Bilder der Erinnerung huschten an seiner Seele vorüber. Er dachte an die Lehrlingszeit zurück, die er in einem chemischen Laboratorium durchgemacht hatte, und an die ersten Gesellenjahre, die er weit von der Heimat in einem großen Glaswerk verbrachte. Dann war er heimgekommen und hatte in der Seydelmannschen Majolikafabrik eine sichere Stelle gefunden. Der gute Herrgott hatte ihm ein gutes Weib und gesunde lustige Kinder beschert – ja, was wollte er denn noch mehr? Ein wenig knapp ging es freilich her zu Hause; aber wenn da nun auch ein paar kleine Rückstände bei den unentbehrlichen Handwerksleuten nicht zu vermeiden waren – er hatte ja nur eine kurze Woche noch auf den Neujahrstag zu warten, an welchem Herr Seydelmann für den Glückwunsch jedes Beamten und Arbeiters mit einem ganzen Monatsgehalte zu danken pflegte. Und diesen Herrn, der ihm erst vor acht Tagen den größten Beweis seines Vertrauens gegeben hatte, den hätte er verraten und verkaufen sollen? Bei diesem Gedanken warf Schaller die geballten Fäuste so zornig in die Höhe, dass ein altes Mütterlein, welches ihm gerade entgegenkam, sich erschrocken vom Fußsteig auf die offene Straße flüchtete.
Bald erreichte er sein Heim, weit draußen in einer stillen Vorstadtgasse. Mit hurtigen Sprüngen eilte er die vier engen, steilen Treppen hinauf. Seine schmucke blonde Frau empfing ihn. „Grüß dich Gott, Robert!“ sagte sie und schaute ihn von der Seite an, denn sie las es ihm gleich vom Gesicht, dass irgend etwas nicht in Ordnung war. Diese Wahrnehmung aber verschwieg sie ihm. Sie fasste seinen Arm und zog ihn gegen die Stube. „Komm nur, kannst mir gleich die Kerzen aufstecken helfen. Die Kinder wollen schier nimmer warten. Sie schreien wie die Wilden, und der armen Großmutter haben sie schon alle Falten vom Rock heruntergerissen.“
Sie traten in das Zimmer, welches, von einer Hängelampe erhellt, trotz seiner dürftigen Ausstattung einen behaglichen, freundlichen Eindruck machte. Der Tisch war schon zum Abendessen gedeckt und seitwärts, auf einem niederen Kasten, stand der kleine, nicht allzu schwer behängte Christbaum, unter welchem die kärglichen Weihnachtsgaben für die Großmutter und die Kinder ausgebreitet waren. Sie redeten eine Weile über diese Sachen und Sächelchen hin und her; dann begannen sie die Kerzen aufzustecken, während aus dem anstoßenden Zimmer der übermütige Jubel der drei „Wilden“ sich hören ließ.
„Robert, mit kommt’s vor, als hättest heut einen Verdruss gehabt?“ fragte nach einer Weile die junge Frau. „Gott bewahr!“ brummte er und schüttelte den Kopf. Sie fragte nicht weiter, denn sie kannte ihn – und da kam’s denn nach kurzen Minuten von selbst aus ihm heraus, diese Kaffeehausgeschichte. „Heute Nachmittag, gerad wie ich aus der Fabrik hab‘ fort wollen, hat mir einer einen Brief geschickt, ich soll zu ihm ins Kaffeehaus kommen, weil er mit eine wichtige Mitteilung zu machen hätt‘.“
„Und bist hingegangen?“
Natürlich war er hingegangen und hatte dort jenen vornehmen Herrn gefunden, der sich ihm als Besitzer einer großen Porzellanfabrik genannt hatte. Da war es nun bald aufgekommen, dass Schaller eine wichtige Mitteilung nicht empfangen, sondern geben, verkaufen sollte. Die Fabrik, in der er arbeitete, lieferte neben anderen einschlägigen Waren eine gewisse Majolikasorte, welche den reißenden Absatz, den sie gefunden, der tadellosen Schönheit und mit unvergleichlichen Schmelz ihrer Farben verdankte. Viele Fabriken hatten es versucht, den gangbaren Artikel nachzumachen; aber wenn auch die zur Erzeugung dieser Schmelzfarben nötigen Stoffe bekannt waren, so vermochte doch keiner der Nachahmer die richtige Mischung zu treffen. Diese war das wohlbewahrte Geheimnis der Seydelmannschen Fabrik geblieben; denn außer dem Besitzer der Fabrik kannte diese Geheimnis nur noch ein einziger alter Arbeiter, der in einem verschlossenen Raume die Mischung vornahm. Dieser Arbeiter war nun vor acht Tagen einer jähen Krankheit erlegen und Robert Schaller war an seine Stelle getreten.
„Und wie mir damals am vorigen Samstag der Herr alles gesagt hat, was ich zu meiner neuen Arbeit hab‘ wissen müssen, hat er kein Versprechen, kein Wort und keinen Schwur von mir verlangt. Sie sind ein braver, tüchtiger Mensch, ich habe Vertrauen zu Ihnen und ich weiß, dass sie meine gute Meinung nicht täuschen werden. Das war alles, was er gesagt hat. Kaum acht Tage sind’s her, seit ich von der Schmelzerei ins Laboratorium gekommen bin; und jetzt hat sich heut schon der Kerl da an mich angeheftet und hat gemeint, er braucht‘ nur seine Brieftasch‘ aufzumachen, dass ich meine Ehr‘ hineinfallen lass‘ zwischen seine Hundertguldenzettel.
Aufatmend schwieg er. Seine junge Frau erwiderte kein Wort. Sie stand auf einem Stuhl und klebte die bunten Kerzlein auf die obersten Zweige des Baumes. Dabei zitterten ihre Hände und nach einer stummen Weile fuhr es ihr plötzlich heraus: „Robert! Wenn du zu einer solchen Schlechtigkeit hätt’st ja sagen können, ich glaub`, da wär’s aus gewesen mit meiner Lieb.“ Er nickte nur, als hätte sie etwas Selbstverständliches gesagt.
Nun sprang sie vom Stuhl und die Kerzen wurden angezündet. Robert öffnete die verschlossene Türe, der Großmutter voran stürmten die drei „Wilden“ herein und lachende, jauchzende Freude füllte die Stube, die vor wenigen Minuten noch so ernste Worte gehört. Als sich aber der erste Jubel der Kinder ein wenig gelegt hatte, kam mit der Bescherung die Reihe an den Vater. Mit lächelnder Zufriedenheit betrachtete er eine nach der andern von den zwölf brettdicken Socken, welche die Großmutter ihm gestrickt hatte, eines nach dem andern von den sechs rot eingestickten, sorgfältig gesäumten Taschentüchern, die ihm seine Frau beschert hatte. Dann kam aber erst die Hauptsache – die Vorführung der „in Freiheit dressierten Wilden“. Die siebenjährige Elise brachte ein Paar gestickte Schuhe und deklamierte dazu eine Pantoffelhymne, als deren Dichterin sich mit verlegenem Erröten die Großmutter bekannte:
„Lieber Vater, diese Schuh
trag in Gesundheit und Ruh;
die Kindeslieb, wo mein Herz beglückt,
hab ich drinnen hineingestickt.
Drum, wenn sie dir warm halten die Füß,
denk an deine Tochter Elis‘!“
Diese Verse haperten zwar, aber sie kamen von Herzen. Dann rückte die dreijährige Marie an. Sie konnte nur mit einem Vaterunser aufwarten. Der fünfjährige Fritz hinwieder hatte sich statt auf die Religion auf die Kunst verlegt. Mit seinem piepsenden Stimmlein sang der kleine Käsehoch ein Lied herunter.
„Kinder! Kinder! her zu mir!“ schrie der junge Vater. Mit beiden Armen fasste er die drei Knirpse zusammen, und während er sie so eng an seine Brust drückte, dass sie lange Gesichter schnitten, schaute er, über ihre Blondköpfe hinweg, ins Leere und stammelte: „Der – der soll mir kommen – und soll mir so eine Freud verderben wollen – so eine Freud!“ Da klang von draußen ein schrillender Glockenton in die Stube. Frau Schaller schaute ihren Mann erschrocken an – weshalb sie erschrak, das wusste sie selbst nicht – ; dann ging sie, um die Tür zu öffnen. Zwei Dienstmänner brachten einen großen Korb und schleppten ihn in die Stube. Von wem er wäre, wussten sie nicht; ein vornehmer Herr hätte sie geschickt und ließe ausrichten, dass er selbst nachkäme. Mit zitternden Händen schlug Frau Schaller den Deckel des Korbes in die Höhe; und was da zum Vorschein kam, entlockte den drei Kindermäulchen ein staunendes, jubelndes Ah! Spielsachen, Backwerk, Kleiderstoffe, das wollte fast kein Ende nehmen; und ganz zu unterst wurde ein kleines, zierlich beschlagenes Kästchen ausgegraben, das sich bis zum Rand angefüllt zeigte mit blitzblanken Silbergulden. Erblasst bis in die Lippen, schaute Frau Schaller zu ihrem Mann auf; der aber streckte schon, das Gesicht von dunkler Zornröte übergossen, die beiden Hände, packte das Kästchen und warf es in den Korb zurück, dass die Münzen klirrend in die Höhe sprangen. „Fort – fort mit dem Geld, sag‘ ich – und die Hände von dem Zeug, Kinder, die Händ‘ weg!“ schrie er mit bebender Stimme. „Der Lump – weil er’s auf geradem Weg nicht fertiggebracht hat – jetzt meint er, er kann mich von hinten packen! Mitnehmen sollen sie’s wieder – auf der Stell!“
Er eilte in den Flur hinaus, um die beiden Dienstmänner zurückzurufen. Draußen aber stand er wie versteinert und brachte kein Wort über die Lippen. Unter der offenen Wohnungstüre stand sein Chef, Herr Seydelmann, eine stattliche Erscheinung von bürgerlich-behäbigem Aussehen. „Guten Abend, lieber Schaller!“ „Sie – Herr Seydelmann – Sie kommen – zu mir?“ „Wie Sie sehen. Und – wissen Sie auch, was ich möchte?“ lächelte der alte Herr. „Ich möchte Sie fragen, wie Ihnen heute Nachmittag der Kaffee geschmeckt hat.“
Dem jungen Mann fielen die Lippen auseinander und mit zitterndem Arme tastete er nach der nahen Mauer. Wie ein grauer Schleier kam’s ihm vor die Augen, er sah nichts mehr, er fühlte nur, wie ihm sein Chef die Hand auf die Schulter legte, und hörte ihn mit leiser, ernster Stimme sagen: „Sie haben ein Recht, lieber Schaller, diese Geschichte von heute Nachmittag eine Beleidigung zu nennen; und ich komme auch, um Ihnen Abbitte zu leisten. Ich hatte Vertrauen zu Ihnen – als Mensch. Aber ich bin auch Geschäftsmann und als solcher muss ich mich von der Richtigkeit meiner Meinung überzeugen. Der Herr, welcher Sie heute in das Kaffeehaus gerufen hat, ist mein Schwager gewesen. Und weil er in meinem Auftrag handelte, müssen Sie auch das Anerbieten, das er Ihnen machte, als von mir gemacht betrachten. Von Neujahr an verdoppele ich Ihre Bezüge und biete Ihnen einen zehnjährigen Vertrag mit steigendem Gehalte. Wenn Sie dann übermorgen wieder die Fabrik besuchen, darf und will ich Ihnen auch das Geheimnis der richtigen Mischung anvertrauen. Und jetzt bekommen Sie – jetzt will ich Ihre Frau und Ihre Kinder kennen lernen!“
Da löste sich der Bann, der über den jungen Mann lag, und mit einem von Tränen erstickten Aufschrei stürzte er seinem Chef voran in die Stube. Ein süßer, harziger Duft quoll ihm entgegen. Ein Zweig des Christbaums, auf welchem noch immer die Kerzen brannten, hatten Feuer gefangen.
Ludwig Ganghofer, 1855 - 1920