Weihnachtsabend kam heran. Es war noch nachmittags, als Reinhard mit anderen Studenten im Ratskeller am alten Eichentisch zusammensass. Die Lampen an den Wänden waren angezündet, denn hier unten dämmerte es schon; aber die Gäste waren sparsam versammelt, die Kellner lehnten müßig an den Mauerpfeilern. In einem Winkel des Gewölbes sassen ein Geigenspieler und ein Zithermädchen mit feinen zigeunerhaften Zügen. Sie hatten ihre Instrumente auf dem Schoß liegen und schienen teilnahmslos vor sich hinzusehen.
Am Studententisch knallte ein Champagnerpfropfen.
„Trinke, mein böhmisch Liebchen!“ rief ein junger Mann von junkerhaftem Äußerem, indem er sein volles Glas zu dem Mädchen hinüberreichte.
„Ich mag nicht“, sagte sie, ohne ihre Stellung zu verändern.
„So singe!“ rief der Junker und warf ihr eine Silbermünze in den Schoß. Das Mädchen strich sich langsam mit den Fingern durch ihr schwarzes Haar, während der Geigenspieler ihr ins Ohr flüsterte, aber sie warf den Kopf zurück uns stützte das Kinn auf die Zither.
„Für den spiel‘ ich nicht“, sagte sie.
Reinhard sprang mit dem Glase in der Hand auf und stellte sich vor sie.
„Was willst du?“ fragte sie trotzig.
„Deine Augen sehen.“
„Was gehen dich meine Augen an?“
Reinhard sah funkelnd auf sie nieder. „Ich weiß wohl, sie sind falsch!“ Sie legte ihre Wange in die flache Hand und sah ihn lauernd an.
Reinhard hob sein Glas an den Mund.
„Auf deine schönen, sündhaften Augen!“ sagte er und trank.
Sie lachte und warf den Kopf herum.
„Gib!“ sagte sie, und indem sie ihre schwarzen Augen in die seinen heftete, trank sie langsam den Rest.
Dann griff sie einen Dreiklang und sang mit tiefer, leidenschaftlicher Stimme:
„Heute, nur heute
bin ich so schön;
morgen, ach morgen
muss alles vergehn!
Nur diese Stunde
bist du noch mein;
sterben, ach sterben,
soll ich allein.“
Während der Geigenspieler im raschen Tempo das Nachspiel einsetzte, gesellte sich ein neuer Ankömmling zu der Gruppe.
„Ich wollte dich abholen, Reinhard“, sagte er.
„Du warst schon fort; aber das Christkind war bei dir eingekehrt.“
„Das Christkind?“ sagte Reinhard.
„Das kommt nicht mehr zu mir.“
„Ei was !
Dein ganzes Zimmer roch nach Tannenbaum und braunem Kuchen.“
Reinhard setzte das Glas aus der Hand und griff nach seiner Mütze.
„Was willst du ?“ fragte das Mädchen.
„Ich komme schon wieder.“
Sie runzelte die Stirn.
„Bleib!“ rief sie leise und sah ihn vertraulich an.
Reinhard zögerte.
„Ich kann nicht“, sagte er.
Sie stieß ihn lachend mit der Fußspitze.
„Geh!“ sagte sie. „Du taugst nichts; ihr taugt miteinander nichts.“ Und während sie sich abwandte, stieg Reinhard langsam die Kellertreppe hinauf.
Draußen auf der Straße war es tiefe Dämmerung; er fühlte die frische Winterluft an seiner heißen Stirn. Hier und da fiel der helle Schein eines brennenden Tannenbaumes aus den Fenstern, dann und wann hörte man von drinnen das Geräusch von kleinen Pfeifen und Blechtrompeten und dazwischen jubelnde Kinderstimmen.
Scharen von Bettelkindern gingen von Haus zu Haus oder stiegen auf die Treppengeländer und suchten durch die Fenster einen Blick in die versagte Herrlichkeit zu gewinnen.
Mitunter wurde auch eine Tür plötzlich aufgerissen, und scheltende Stimmen trieben einen ganzen Schwarm solcher kleiner Gäste aus dem hellen Hause auf die dunkle Gasse hinaus; anderswo wurde auf dem Hausflur ein altes Weihnachtslied gesungen; es waren klare Mädchenstimmen darunter.
Reinhard hörte sie nicht, er ging rasch an allem vorüber, aus einer Straße in die andere.
Als er an seine Wohnung gekommen, war es fast völlig dunkel geworden; er stolperte die Treppe hinauf und trat in seine Stube. Ein süßer Duft schlug ihm entgegen; das heimelte ihn an, das roch wie zu Hause der Mutter Weihnachtsstube.
Mit zitternder Hand zündete er sein Licht an; da lag ein mächtiges Paket auf dem Tisch, und als er es öffnete, fielen die wohlbekannten braunen Festkuchen heraus; auf einigen waren die Anfangsbuchstaben seines Namens in Zucker ausgestreut; das konnte niemand anders als Elisabeth getan haben. Dann kam ein Päckchen mit feiner gestrickter Wäsche zum Vorschein, Tücher und Manschetten, zuletzt Briefe von der Mutter und von Elisabeth. Reinhard öffnete zuerst den letzteren;
Elisabeth schrieb:
„Die schönen Zuckerbuchstaben können Dir wohl erzählen, wer bei den Kuchen mitgeholfen hat; dieselbe Person hat die Manschetten für Dich gestickt. Bei uns wird es nun Weihnachtsabend sehr still werden; meine Mutter stellt immer schon um halb zehn ihr Spinnrad in die Ecke.
Es ist gar so einsam diesen Winter, wo Du nicht hier bist. Nun ist auch vorigen Sonntag der Hänfling gestorben, den Du mir geschenkt hattest; ich habe sehr geweint, aber ich habe ihn doch immer gut gewartet. Der sang sonst immer nachmittags, wenn die Sonne auf seinen Bauer schien; Du weißt, die Mutter hing oft ein Tuch über, um ihn zu geschweigen, wenn er so recht aus Kräften sang. Da ist es nun noch stiller in der Kammer, nur dass Dein alter Freund Erich uns jetzt mitunter besucht. Du sagtest einmal, er sähe seinem braunen Überrock ähnlich. Daran muss ich nun immer denken, wenn er zur Tür hereinkommt, und es ist gar zu komisch; ich sag es aber nicht zur Mutter, sie wird dann leicht verdrießlich. –
Rat, was ich Deiner Mutter zu Weihnachten schenke!
Du rätst es nicht? Mich selber !
Der Erich zeichnete mich in schwarzer Kreide; ich habe ihm schon dreimal sitzen müssen, jedesmal eine ganze Stunde. Es war mir recht zuwider, dass der fremde Mensch mein Gesicht so auswendig lernte. Ich wollte auch nicht, aber die Mutter redete mir zu; sie sagte, es würde der guten Frau Werner eine große Freude machen.
Aber Du hältst nicht Wort, Reinhard. Du hast keine Märchen geschickt. Ich habe Dich oft bei Deiner Mutter verklagt; sie sagt dann immer, Du habest jetzt mehr zu tun als solche Kindereien. Ich glaub es aber nicht; es ist wohl anders.“
Nun las Reinhard den Brief seiner Mutter, und als er beide Briefe gelesen und langsam wieder zusammengefaltet und weggelegt hatte, überfiel ihn unerbittliches Heimweh.
Er ging eine Zeitlang in seinem Zimmer auf und nieder; er sprach leise und dann halb verständlich zu sich selbst:
„Er wäre fast verirret und wusste nicht hinaus; da stand das Kind am Wege und winkte ihm nach Haus !“
Dann trat er an sein Pult, nahm einiges Geld heraus und ging wieder auf die Straße hinab. Hier war es mittlerweile stiller geworden, die Weihnachtsbäume waren ausgebrannt, die Umzüge der Kinder hatten aufgehört. Der Wind fegte durch die einsamen Straßen; Alte und Junge sassen in ihren Häusern familienweise zusammen; der zweite Abschnitt des Weihnachtsabends hatte begonnen.
Als Reinhard in die Nähe des Ratskellers kam, hörte er aus der Tiefe herauf Geigenstrich und den Gesang des Zithermädchens; nun klingelte unten die Kellertüre, und eine dunkle Gestalt schwankte die breite, matt erleuchtete Treppe herauf.
Reinhard trat in den Häuserschatten und ging dann rasch vorüber. Nach einer Weile erreichte er den erleuchteten Laden eines Juweliers; und nachdem er hier ein kleines Kreuz von roten Korallen eingehandelt hatte, ging er auf demselben Weg, den er gekommen war, wieder zurück. Nicht weit von seiner Wohnung bemerkte er ein kleines in klägliche Lumpen gehülltes Mädchen an einer hohen Haustür stehen, in vergeblicher Bemühung, sie zu öffnen.
“ Soll ich dir helfen ?“ sagte er.
Das Kind erwiderte nichts, ließ aber die schwere Türklinke fallen. Reinhard hatte schon die Tür geöffnet.
„Nein“, sagte er, „sie könnten dich hinausjagen; komm mit mir!
Ich will dir Weihnachtskuchen geben.“ Dann machte er die Tür wieder zu und fasste das kleine Mädchen an der Hand, das stillschweigend mit ihm in seine Wohnung ging.
Er hatte das Licht beim Weggehen brennen lassen.
„Hier hast du Kuchen“, sagte er und gab ihr die Hälfte seines ganzen Schatzes in die Schürze, nur keine mit den Zuckerbuchstaben.
„Nun geh nach Haus und gib deiner Mutter auch davon.“
Das Kind sah mit einem scheuen Blick zu ihm hinauf; es schien solcher Freundlichkeiten ungewohnt und nichts darauf erwidern zu können.
Reinhard machte die Tür auf und leuchtete ihr, und nun flog die Kleine wie ein Vogel mit ihrem Kuchen die Treppe hinab und zum Haus hinaus. Reinhard schürte das Feuer in seinem Ofen an und stellte das bestaubte Tintenfass auf seinen Tisch; dann setzte er sich hin und schrieb und schrieb die ganze Nacht Briefe an seine Mutter, an Elisabeth.
Der Rest der Weihnachtskuchen lag unberührt neben ihm; aber die Manschetten von Elisabeth hatte er angeknüpft, was sich gar wunderlich zu seinem weißen Flauschrock ausnahm.
So saß er noch, als die Wintersonne auf die gefrorenen Fensterscheiben fiel und ihm gegenüber im Spiegel ein blasses, ernstes Antlitz zeigte.
Theodor Storm, 1817 - 1888