Bei Hanspeter Grimm und seiner Frau wurde Weihnachten gefeiert. Seine Mutter und Geschwister saßen um den großen Tisch, und in der Ecke stand der brennende Weihnachtsbaum. Das ganze Zimmer duftete nach Weihnachten, und als Hanspeters Frau ein Weihnachtslied anstimmte, sangen alle mit. Draußen fiel der Schnee; ganz leise stiebte er ein wenig an die Fenster, als wollte er sagen: ich muß doch da sein, damit es weiße Weihnachten sind, aber ich meine es nicht bös. Nachher will ich wieder aufhören, und dann sage ich den Sternen Bescheid, daß sie auf die weihnachtliche Erde hinabscheinen.

Doch Hanspeters Frau zog die Fenstervorhänge zusammen, rief in die Küche, daß der Punsch gebracht werden sollte, und dann setzte sie sich wieder neben ihren Mann.

»Nun wollen wir uns ein paar Weihnachtsgeschichten erzählen!« sagte sie. Da begannen die jungen Leute zu berichten. Jeder hatte schon Weihnachten etwas erlebt, das er besonders fand, und die Geschichten hörten sich ganz gut an: aber im ganzen waren sie doch ein wenig langweilig, wenigstens fand dies die alte Frau, die still in der Sofaecke gesessen hatte und sich nun an Hanspeter wandte.

»Erzähl' mal deine Weihnachtsgeschichte!« meinte sie.

Ihr Sohn schüttelte den Kopf. »Sie ist auch nicht besonders, Mutter! Nur eine Dummejungengeschichte.«

»So dumm ist sie gar nicht,« erwiderte seine Mutter, »erzähl' sie nur!«

Als dann auch die andern um die Geschichte baten, und noch zwei Freunde dazukamen, die eingeladen waren, den Weihnachtsbaum zu sehen, und sich neben seinen knisternden Kerzen hinsetzten, da warf Hanspeter einen fragenden Blick auf seine Frau, die ihm freundlich zunickte.

Also begann Hanspeter zu erzählen:

»Ja, Kinder, wenn ihr jetzt gemütlich Weihnachten bei mir feiert, und ich mein gutes Auskommen in Altenkirchen habe, vier Kühe im Stall, und dann die gute Bäckerei, dann denkt ihr wohl, daß ich mit 'nem silbernen Löffel im Mund geboren bin. Aber da fragt nur Mutter: es ist uns tüchtig knapp gegangen, als Vater so schnell starb und sie ganz allein mit den fünf Kindern saß. Damals ist sie zum Arbeiten ausgegangen, und wie ich noch nicht konfirmiert war, mußte ich schon beim Bauern helfen und mit dem Milchwagen durch die Dörfer fahren. Ich tat's nicht ungern, und manchmal war es ganz nett, in den Sonnenschein ganz früh morgens hinauszufahren, aber meistens war's nicht leicht, so früh aus den Federn zu müssen und bei jedem Wetter von einem Haus zum andern zu kutschieren. Ich hatte auch nur einen Anzug, und der wurde so schlecht, daß ich mich freute, wie Ostern kam und der Dorfschneider mir einen neuen machte. Halb hatte ich ihn mir verdient; die andere Hälfte blieb Mutter schuldig, ich sollte sie allmählich abbezahlen. Ich wurde nämlich konfirmiert, und nun kam ich in die große Gutsmeierei, um die Kühe zu melken. Darauf freute ich mich natürlich, und dann noch mehr über meinen neuen Anzug. Natürlich trug ich ihn nur sonntags, aber dann kam ich mir sehr fein vor. Er war aus blauem Düffel und hatte große blanke Knöpfe; als ich mir von meinem ersten Lohn ein Paar neue Stiefel kaufte und Mutter mir ein selbstgestricktes Paar Strümpfe schenkte, da wollten meine kleineren Geschwister immer dabei sein, wenn ich mich Sonntags feinmachte, und ich selbst kaufte mir einen kleinen Spiegel, den ich auf die Erde stellte, damit ich mich ganz besehen konnte.

Ich kam wir wirklich großartig vor, und den ganzen Sommer hatte ich Spaß an meinen guten Sachen. Schön ist es, sich selbst was zu verdienen: das wißt ihr alle, und wenn ich meinen Wochenlohn an Mutter brachte, dann lobte sie mich immer und sagte: »Hanspeter, du machst mir Freude!« Endlich bildete ich mir denn ordentlich was ein und glaubte, ich wäre ein Hauptkerl, und niemand wäre so klug wie ich.

Das ging so bis in den November, und ich dachte schon darüber nach, was ich Mutter zu Weihnachten schenken wollte, und was ich wohl von der Herrschaft kriegen würde, als der lange Franz nach Altenkirchen kam. Der hatte auch 'ne Stelle in der Meierei, und fragte mich gleich, als er mich zum erstenmal sah, ob wir nicht zusammen nach Hamburg gehen wollten. Ich war noch nie in Hamburg gewesen, obgleich es mit dem Omnibus nur zwei Stunden zu fahren war; aber Mutter sagte, ich sollte nicht allein gehen, und sie hatte keine Zeit mitzukommen.

Der lange Franz konnte es nicht begreifen, daß ich noch nie in Hamburg gewesen war.

»Du bist ja ein Mondkalb!« sagte er: »Liegt dir das feine Hamburg vor der Nase, und du kennst es nicht. Und um diese Zeit fängt doch der Dom an!«

Vom Dom hatte ich natürlich gehört. Das war ein großer Jahrmarkt, und Mutter sagte, da könnte man in einer Sekunde sein Geld loswerden. Als ich dies sagte, lachte Franz noch mehr.

»O was ein Muttersohn! Glaubst alles, was die Frauensleute sagen, und das darf man doch nicht. Der Hamburger Dom ist mehr als großartig, und wenn du noch kein Schwein gesehen hast, das Klavier spielen kann, und 'ne Gans, die sagt, wie alt du bist, und den Flohzirkus, wo die Flöhe Polka tanzen, dann tust du mir leid!«

Franz wußte was zu erzählen! Wie schön es in Hamburg war, wie himmlisch auf dem Hamburger Dom, und ich konnte natürlich nicht genug davon hören.

»Mutter,« sagte ich am nächsten Sonnabend, »ich wollt' gern morgen nach dem Hamburger Dom!«

Ich brachte ihr nämlich meinen Wochenlohn, und wollte zwei Mark zurückbehalten.

Aber sie nahm mir das Geld wieder aus der Hand.

»Hanspeter, wart' bis zum andern Jahr! Der Hamburger Dom läuft nicht weg, und dann kannst mit mehr Geld hin. Dein Anzug ist noch nicht ganz bezahlt, und deine Stiefel haben neue Sohlen gekriegt. Hamburg läuft nicht weg!« Aber ich glaubte, daß Hamburg wegliefe, ging brummig zu Bett und zog am andern Morgen verdrießlich meinen neuen Anzug und die frischbesohlten Stiefel an. Franz hatte gesagt, daß er ganz früh nach Hamburg mit dem Omnibus fahren wollte, und ich ärgerte mich, daß ich nicht mitdurfte. Den Omnibus abfahren sehen wollte ich aber jedenfalls, und lief zum Dorfkrug, wo er stand. Er war schon ganz voll; alte Menschen wollten entschieden nach dem Hamburger Dom, und Franz saß zwischen zwei jungen Mädchen und erzählte ihnen so viel, daß er mich nicht sah. Langsam rappelte der alte Kasten davon, und dann fuhr noch ein Leiterwagen vor für die, die im Omnibus keinen Platz gefunden hatten. Ich steh', seh' die Menschen einsteigen, ärgere mich, daß ich nicht mitkann, und sehe mit einem Male mitten auf dem Wege eine Geldtasche liegen. Ich nehm' sie auf, seh' nach, was darin ist, und dann sitz' ich auf dem Leiterwagen und will auch nach Hamburg!«

Hanspeter hielt inne, und seine Stirn war rot geworden. Aber niemand sagte ein Wort, und so sprach er denn bald weiter.

»Da waren zwanzig Mark in Gold im Beutel, und dann noch so viel Silber, daß ich den Kutscher bezahlen konnte. Ach, wie langsam fuhr der Leiterwagen, und wie kalt wurde es! Es war noch kein rechtes Weihnachtswetter, obgleich es der erste Sonntag im Dezember war; aber der Wind wehte scharf, und im Wagen lag kein Stroh. Da werden alle ganz verklahmt, und wenn die Frauen und Mädchen zuerst vom Hamburger Dom gesprochen und gesagt hatten, was sie sich kaufen und was sie alles besehen wollten, so fingen sie allmählich an zu frieren und wollten irgendwo einkehren, um was Warmes zu trinken. Aber das ging nicht, und endlich hielt der Wagen still, und wir waren auf dem Schweinemarkt in Hamburg. Es liefen dort aber keine Schweine herum; überall standen großmächtige Häuser, und wie ich auf dem Pflaster stand, da taumelte ich etwas, weil ich so verfroren war. Aber ich freute mich doch schrecklich, in Hamburg zu sein, und sah mich um, wo wohl der Hamburger Dom wäre. Ich konnte ihn nicht entdecken, und wie ich mich noch umsehe und mich wundere über die vielen Menschen, und daß keiner nach mir hinsieht – und wie ich gerade jemand fragen will, faßt mich einer am Arm.

»Gun Tag, Peter!«

Ich seh' mich um. Da steht ein junger Mensch, den ich nicht kenne. Er hat 'nen schlechten Rock an und sieht blaß aus. Aber ich freu' mich doch, daß er mit mir spricht.

»Ich heiß' Hanspeter!« sage ich, und er lacht.

»Ich mein' auch Hanspeter! Willst du nach dem Dom?«

»Ja!« sag' ich.

»Hast denn auch Geld?«

»Gewiß!« erwidre ich trotzig, und er hakt mich unter.

»Dann komm nur, Hanspeter, ich will dich wohl hinbringen. Ich wollt' nur erst etwas Warmes trinken, weil es höllisch kalt ist. Willst nicht auch was haben?«

Natürlich wollte ich das. Ich war kalt und hungrig, und dann wollte ich auch vergessen, daß mir das gefundene Geld nicht gehörte.

Da sind wir denn zusammen losgezogen. Mein neuer Freund hieß Albert, und er sagte, daß er letztes Jahr in Altenkirchen gewesen wäre und meine Mutter auch kennte. Und er erzählte vom Wachsfigurenkabinett in Sankt Pauli, wo alle Mörder zu sehen waren, und von einem Neger, der Feuer fraß, und von noch viel mehr, und dann saßen wir zusammen in einer Wirtschaft und tranken Punsch. Ich hatte noch niemals Punsch getrunken, und er schmeckte mir wunderschön. Das war wie Feuer in mir, und ich wurde lustig und erzählte von zu Haus und von meiner Stelle, und daß ich noch nie in Hamburg gewesen wäre. Und Albert sagte, daß ich ein famoser Kerl wäre und immer bei ihm bleiben sollte. Dann tranken wir Brüderschaft, und was weiter war, weiß ich nicht mehr.

Als ich wieder zur Besinnung kam, da lag ich in einem Bett, und alles war stockfinster um mich her. Schmerzen hatte ich im Kopf, daß ich meinte, er müßte kaputtgehen, und übel war ich, als schaukelte ich auf dem Wasser. Da schlief ich denn endlich wieder ein, und wie ich nun wach wurde, steht eine alte Frau vor meinem Bett und sagt: »Aufstehn, Hanspeter! Du mußt jetzt arbeiten!«

»Wer sind Sie?« frage ich ganz verdöst, und sie lacht.

»Ich bin deine Herrschaft und heiß' Frau Brand. Weißt du nicht mehr, daß du dich bei mir vermietet hast? Du sollst meinen Keller reinmachen und mein Essen kochen!«

»Sie sind wohl verrückt!« rufe ich. Dabei will ich aus dem Bett springen und nach meinem Anzug greifen. Aber da liegt kein Anzug, und meine Stiefel kann ich auch nicht sehen.

Die alte Frau sieht mich boshaft an.

»Ja, Hanspeter, du mußt schon warten, bis ich dir was hole, damit du anständig aussiehst. Du hast nur ein Hemd an, mein Junge; in son Kostüm kann man in Hamburg nicht rumlaufen. Nicht einmal im Zimmer!«

Sie hatte recht: im Hemd konnte ich nicht herumlaufen, und etwas zum Anziehen war nicht zu finden. Ich weiß nicht mehr, wie laut ich geschrien und geheult hab'; mit einem Male stand der Freund von gestern vor mir, und er trug meinen guten Anzug und meine neubesohlten Stiefel. Ich wollte mich auf ihn stürzen, aber da hielt er mir eine Pistole vors Gesicht. »Wenn du dich muckst, dann schieße ich!« drohte er, und seine Augen funkelten zornig. Da bin ich denn still geworden. Denn erstmal wollte ich mich nicht totschießen lassen, und dann hatte ich solche Schwere in den Gliedern, daß ich meinte, todkrank zu werden. Es war wohl Gift oder was Ähnliches in dem Punsch gewesen, den Albert mir gegeben hatte; und ich fühlte mich schwach wie ein Kranker. Sie warfen mir einen alten roten Weiberrock hin und eine schmutzige Nachtjacke, und dann mußte ich aufstehen und für Frau Brand und ihren Albert Kaffee machen. Dabei lachten sie über mich, und Albert machte nach, wie dumm ich nach Hamburg gekommen wäre, und daß er wollte, noch mehr Schafsköpfe, wie ich, führen mit dem Omnibus hierher, um den Dom zu sehen. Er hatte die Macht über mich. Ich war schwach und krank, und wenn ich mir auch sonst das Weinen abgewöhnt hatte, so saßen mir die Augen jetzt voll von Tränen. Darüber lachte Albert noch mehr, nannte mich eine Heulliese und stieß mich mit meinem eigenen Stiefeln.

Ich war wie betäubt; ich machte den Keller rein, ich schälte Kartoffeln, ich mußte alles tun, was Frau Brand und ihr netter Sohn befahlen, und ich mußte mich stoßen und mir befehlen lassen. Heraus aus dem Keller konnte ich nicht; wo ich war, da wurde die Tür abgeschlossen, und ich wußte ja auch nicht Bescheid in Hamburg. Wenn ich weglief, griff mich die Polizei natürlich gleich auf, und wenn ich sagte, daß ich zwanzig Mark gefunden und nicht abgeliefert hatte, dann steckte die mich wohl ins Loch.

Ja, das war gräßlich, Kinder, und wenn ich jetzt daran denke, dann wird mir noch immer komisch zumute!«

Hanspeter stieß einen tiefen Seufzer aus und sah lange Zeit vor sich hin. Bis seine Frau ihn anlächelte und er weitererzählte.

»Ich bin wohl drei oder vier Tage bei Albert und seiner Mutter gewesen, bis ich mich wieder ordentlich besann. Ich merkte wohl: das waren Verbrecher, denen ich in die Hände gefallen war, und Albert sagte schon einmal, wenn ich artig wäre, dann könnte ich ihm bei einem feinen Geschäft helfen. Ich konnte mir denken, was dies für ein Geschäft war. Ich sollte mit ihm stehlen und betrügen. Aber ich wollte nicht; ich wollte wieder nach Altenkirchen, und ich dachte an meine Mutter, wie sie wohl in Angst um mich war, und was mein Herr sagte, daß ich aus dem Dienst gelaufen war. Aber im roten Unterrock konnte ich nicht auf die Straße, und ich hatte noch immer Furcht vor der Polizei. Albert sagte, das wären alles schlechte Menschen, und wenn sie mich kriegten, würde ich viele Wochen im Gefängnis sitzen müssen. Grade, als ob er gut gewesen wäre, der jeden Tag ausging, um die Menschen zu bestehlen und zu betrügen, und wenn er mit leeren Händen nach Hause kam, dann schlug er seine Mutter. Sie war eine alte greuliche Person, aber als sie einmal laut weinte, da tat sie mir leid, und beinahe wäre ich auf Albert losgegangen, aber ich besann mich noch. Ich wollte nicht zeigen, daß das Gift wieder aus meinem Körper war, und daß ich darüber nachdachte, auszukneifen.

Die Gedanken kamen mir mächtig, als ich an einem Nachmittag allein im Keller war. Die alte Brand war ausgegangen und ihr Sohn auch. Natürlich hatten sie mich eingeschlossen, und die Fenster hatten eiserne Ränder; aus ihnen konnte ich nicht steigen. Aber ich wollte alles versuchen: ich wollte weg; das Leben konnte ich nicht mehr aushalten, und wenn die Polizei mich erwischte, dann mochte sie es tun. Ich war ja doch im Gefängnis, und vielleicht war das wirkliche Gefängnis besser als dieses hier.

Ich saß in der Küche und sollte den Herd reinmachen. Das war ein stickiger Raum und so voll von Sachen gepackt, daß man nicht ans Fenster kommen konnte, das tief unter der Erde lag. Aber ich schob einen großen Schrank zur Seite, und dann suchte ich die Scheibe, die dahinter lag, einzuschlagen. Gerade, wie ich den Arm mit der Kohlenschaufel hob, da höre ich singen.

»Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, nur einer wacht!«

Das Lied kannte ich auch. Ich hatte es doch vorige Weihnacht mit in der Kirche gesungen, und der Lehrer hatte mich gelobt, weil ich's gut machte, und nachher hatte ich's Mutter vorgesungen, und sie hatte sich die Augen gewischt, wie sie überhaupt Weihnachten leicht traurig war, weil sie an meinen verstorbenen Vater dachte. Und nun weinte sie wohl auch, weil ihr Hanspeter weggelaufen war, und sie nicht wußte, was er mit sich angefangen hatte. Einen Augenblick dachte ich, mein Herz würde entzweigehen, aber dann sah ich ein, daß mit Heulen nichts zu wollen war. Ich wischte lieber die schmutzige Fensterscheibe ab und versuchte, hinauszusehen. Halbdunkel war's schon, aber ich sah, daß das Fenster auf einen Hof ging. Gradgegenüber lagen Hinterhäuser; zu ebener Erde stand ein Fenster offen, und von dorther kam der Gesang. Ich dachte, wer so singen kann, der hilft dem armen Hanspeter, daß er wieder nach Hause und zu seiner Mutter kommt. Ich vergaß, daß ich noch immer im Weiberrock ging und nur ein Paar alte Strohschuhe an den Füßen hatte; ich schlug die Scheibe ein, bog die eisernen Stangen des Kellerfensters auseinander, drückte mich durch und lief nach dem offenen Fenster. Ich sah in eine saubere Stube, in der ein kleines Mädchen ganz allein saß und eifrig strickte. Dabei sang sie ihr Weihnachtslied, und wie ich plötzlich zu ihr ins Zimmer sprang, da erschrak sie nicht, sondern betrachtete mich nur erstaunt.

»Was bist du für ein?« fragte sie. »Bist 'ne Tante oder ein Onkel?« Denn ich sah wohl tüchtig verrückt aus mit meiner Verkleidung und meinem Jungenskopf. Aber ich hörte nicht auf ihre Frage.

»Kannst mir 'ne Hose geben, und einen Rock? Ich geb' es wieder, wenn ich kann!«

Nun sah sie mich noch einmal an.

»Mutter ist auf Arbeit, und Bruder Jochen auch, und ich soll auf alles passen! Und ich sing' ein büschen, weil ich sonst bange bin, und das Fenster hab' ich offen gemacht, weil da ein Sperling war, der so gern reinwollte. Aber er is' doch nicht reingekommen!«

Ich hörte nicht auf sie.

»Kannst mir nicht Rock und Hose geben?«

Mehr konnte ich nicht denken, ich mußte doch aus dem Unterrock heraus. Und vielleicht habe ich ein böses Gesicht gemacht, denn die Kleine ist mit einmal aufgestanden und an einen Schrank gegangen.

»Mutter hat gesagt, wenn die Diebens kämen, dann sollt' ich ihnen man alles geben, weil ich mir noch nicht wehren kann. Hier, lieber Dieb, bedienen Sie sich!«

Da hing ein guter Anzug, und ich weiß nicht, wie ich hineingekommen bin. Und ich hab' nicht danke gesagt und adieu, und bin von dem Zimmer auf die Straße und immer weiter gelaufen. Und wie ich aus Hamburg heraus und wieder nach Altenkirchen gekommen bin, das kann ich heutigen Tages nicht sagen. Aber gegen Morgen am andern Tage war ich vor Mutters Haus, und wie ich leise an die Tür klopfte, und sie mir aufschloß, da hab' ich gehofft, sie würde mir 'ne Ohrfeige geben und mich gehörig schelten. Wer sie sagte kein Wort, und war ganz mager vor Kummer geworden, und ich hätte ihr am liebsten einen Kuß gegeben und sie um Verzeihung gebeten, aber dann schämte ich mich so, daß ich's nicht konnte.

Das Nachhausekommen war schrecklich. Die Leute in Altenkirchen fragten: »Hanspeter, bist du wieder da? Jung', der Hamburger Dom ist dir schlecht bekommen!« und das war auch so. Denn ich war abgefallen, hatte einen bösen Husten und lief noch immer in Strohschuhen, und in der Meierei wollten sie mich zuerst nicht wiedernehmen, weil ich fortgelaufen war; und als sie es endlich aus Gnade und Barmherzigkeit taten, weil ich so jämmerlich bat, da sagte der Herr gleich, daß er mir kein Weihnachtsgeschenk machen könnte. Dann hörte ich auch, daß ein armes Mädchen ihren mühsam gesparten Lohn auf der Straße verloren habe, und die Leute schalten über den Spitzbuben, der Geld fand und es nicht ablieferte.

Wie der Weihnachtsabend kam, da hatte Mutter einen kleinen Weihnachtsbaum angezündet, und die kleineren Geschwister standen darunter und freuten sich. Mutter aber stand ganz still davor und weinte. Die Kinder sangen: »Stille Nacht, heilige Nacht!« und ich sah ein kleines Mädchen allein in der Stube sitzen, und sie nannte mich »lieber Dieb!« Ich war der Dieb gewesen. Wenn sie an mich dachte und von mir sprach, dann sagte sie natürlich: »der Dieb!«

An diesem Abend konnte ich keinen Weihnachtsbaum sehen und kein Weihnachtslied hören. Aber als die Kleinen zu Bette gegangen waren und Mutter vor ihrer Bibel saß, da kam ich zu ihr und gestand ihr, wie alles gewesen war. Und versprach, daß ich alles wieder gutmachen wollte.

Da wurde Mutters Gesicht wieder freundlich, und wenn sie auch traurig war, daß ich das Geld genommen und nachher mir den Anzug erzwungen hatte, so meinte sie, wenn ich mir Mühe gäbe, so könnte ich alles wiedererstatten. So also habe ich das neue Jahr mit guten Vorsätzen angefangen, und wenn auch sonst der Weg zur Hölle damit gepflastert ist, so habe ich mein Bestes getan, sie auszuführen. Das ist nicht immer ganz leicht gewesen, denn was man in einer Stunde Böses getan hat, dazu braucht's oft Jahre, bis alles wieder gut ist, und manchmal gelingt's überhaupt gar nicht.

Aber ich habe ordentlich gearbeitet, um Geld zu verdienen, und nach einigen Monaten kriegte das arme Mädchen, das ihren Lohn verloren hatte, das Geld mit Zinsen von einem Unbekannten wiedergeschickt, und dann bezahlte ich dem Schneider meinen Anzug, mit dem Albert umherjunkerierte, und ließ mir einen anderen machen. Zwar war er lange nicht so fein wie der erste, und im Spiegel mochte ich mich überhaupt nicht mehr besehen, weil ich das Bild vom »lieben Dieb« nicht mehr leiden mochte.

Und dann bin ich einmal gegen Weihnachten mit meiner Mutter nach Hamburg gefahren, und wir haben versucht, das Haus und die Straße ausfindig zu machen, in dem Albert und seine Mutter mich gefangen hielten. Denn wenn ich nur wußte, wo ich im Keller gesteckt hatte, dann wollte ich auch schon herausbekommen, wo das kleine Mädchen wohnte, dem ich den Anzug vor der Nase weggenommen hatte. Aber wir konnten den Keller nicht finden, und dann haben wir eine Kusine von Mutter besucht, die einen kleinen Gemüseladen hatte, und bei der wir Kaffee tranken. Es war eine redselige Frau, und sie und Mutter hatten sich so viel zu erzählen, daß ich schweigend dabeisaß und nicht recht wußte, was ich anfangen sollte. Bis ich mit einem Male eine Stimme singen höre: »Stille Nacht, heilige Nacht!« Da bin ich in die Höhe gefahren, daß mich Tante ganz verwundert ansah.

»Magst das Lied nicht hören, klein Jung?« fragte sie. »Wir haben neue Mieter gekriegt, und das kleine Mädchen übt ihre Weihnachtslieder. Es sind überhaupt sehr nette Leute: eine Mutter und ihre zwei Kinder. Sie wohnten früher in der Marthastraße, aber da hatten sie solch schreckliches Abenteuer mit einem Dieb. Der kam am hellen Tage zu dem kleinen Mädchen, als sie allein war, und nahm einen Anzug von ihrem Bruder aus dem Schrank. Einen Frauenrock und eine Nachtjacke hatte er dagelassen, und das kleine Mädchen, Anna heißt sie, sagte, sie hätte gar keine Angst vor ihm gehabt. Aber ihre Mutter und ihr Bruder haben doch die Wohnung gekündigt. Es war eine zu schreckliche Nachbarschaft.« Und die Tante erzählte weiter, daß eine Frau und ihr Sohn in der Nähe gewohnt hätten, die jetzt beide im Gefängnis wären. Der Sohn hatte fremde junge Leute an sich gelockt, sie betrunken gemacht und sie dann zu seiner Mutter gebracht, die sie eingesperrt und schlecht behandelt hätte, bis sie ebenso schlecht wurden wie ihr Sohn. Die Tante erzählte lang und breit von der Geschichte, und Mutter hörte schweigend zu. Mir aber wollte kein Kaffee mehr schmecken, und ich freute mich, als wir bald aufstanden und auf die Straße gingen.

Tante ging wieder in ihren Laden, in dem viel zu tun war, und wir blieben stehen und wußten nicht recht, was wir tun sollten. Ich merkte, daß es Mutter schwer wurde, zu den Leuten zu gehen, denen ihr Sohn etwas gestohlen hatte, und ich wäre am liebsten weit weggelaufen.

Dann aber hörte ich wieder das Weihnachtslied singen, und ich wußte, daß bald Weihnachten war, und daß es besser war, das Fest zu feiern, wenn das Gewissen ruhig geworden war. So also faßte ich mir ein Herz, und zog an der Glocke von der Wohnung, aus der der Gesang kam. Wie nun ein kleines Mädchen mir öffnete, da trat ich schnell auf den Korridor, freute mich, daß er dunkel war, und sagte ganz schnell und leise:

»Hier sind fünfzig Mark! Ich wollte den Anzug bezahlen, den ich voriges Jahr dir weggenommen hab'. Ich war in großer Not, und ich danke dir noch sehr, daß du mir geholfen hast, und ich werde niemals wieder ein Dieb werden, darauf kannst du dich verlassen!«

Eilig wollte ich wieder weglaufen, da faßte mich eine kräftige Hand.

»Bleib' mal ein büschen hier, mein Jung', ich will dich genau ansehen!« Doch das kleine Mädchen rief laut:

»Jochen, tu' ihm nichts! Ich hab' es immer gesagt, das war kein böser Dieb; er konnte doch nicht im Unterrock auf die Straße laufen!«

Aber Jochen hatte mich gepackt und schüttelte mich derb, und wenn Mutter nicht gekommen wäre und alles erklärt hätte, ich würde wohl noch eine Tracht Prügel besehen halben, und eigentlich hatte ich sie auch verdient. Aber wie Jochen, der ein großer junger Mann war, Mutter sah und ihre bittende Stimme hörte, da ließ er mich los, und die fünfzig Mark nahm er gern, weil er natürlich zum Fest Geld gebrauchen konnte. Er merkte auch, daß es mir ernst mit meiner Reue war, und schließlich wäre er selbst auch ungern mit einem Frauenunterrock gegangen, und Albert kannte er von Ansehen, und wußte, daß er wegen vieler Missetaten im Gefängnis saß, und, wenn er freikam, wahrscheinlich gleich wieder hineinkommen würde. So also hat er uns endlich eingeladen, näherzutreten, und als seine Mutter nach Hause kam, da saßen wir alle um den Tisch, aßen gebratene Äpfel und sangen dabei: »Stille Nacht, heilige Nacht!«

Und wenn die gebratenen Äpfel mir auch nicht besonders schmeckten, denn ich kam mir immer noch wie ein Lumpenhund vor, so sang ich das Lied von Anfang bis Ende, und jedesmal, wenn Weihnachten kommt, freue ich mich, es wieder und wieder zu hören.«

Hanspeter schwieg mit einem tiefen Atemzug und wischte sich die Stirn. Er war heiß bei der Geschichte geworden und sah in die Lichter des Tannenbaums, die ein gut Stück niedergebrannt waren. Der eine von den Freunden stand auf, putzte an den Lichtern und sah dann auf Hanspeters Frau.

»Und wie geht die Geschichte weiter?«

Hanspeter lachte.

»Nun willst du wissen, wie es gekommen ist, daß die kleine Anna meine Frau und ihr Bruder Jochen mein bester Freund geworden ist. Aber das ist eigentlich keine Weihnachtsgeschichte, wenn sie auch Weihnachten begonnen hat. Zwölf Jahre habe ich noch schaffen und arbeiten müssen, ehe ich mein eigenes Haus einrichten konnte. Aber jedermann wird begreifen, daß das Weihnachtslied mir in der größten Dunkelheit geholfen und vielleicht verhindert hat, daß ich schlecht wurde wie Albert. Denn wenn man einmal auf dem schiefen Wege ist, kommt man nicht so leicht wieder auf einen geraden. Deshalb freue ich mich immer, wenn wir das Weihnachtslied singen, meine gute Mutter neben mir sitzt und nicht mehr böse auf ihren Hanspeter ist. Nicht wahr, Mutter?«

Er faßte die Hand der alten Frau und streichelte sie leise.

Dazu knisterten die Weihnachtslichte, aber draußen war es klar geworden, und die Sterne begannen zu glitzern.

Charlotte Niese, 1854 - 1935

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