Der Dickkopf war die bekannteste Person in der Stadt, trotz der Erlauchtheiten, die die Hochschule schmückten. Er hieß eigentlich anders, und der Polizeihauptmann nannte ihn bei seinem Vatersnamen; aber die Schutzleute rapportierten vom Dickkopf, und jeder von ihnen hatte sich für sein Taschenbuch eine eigene Abkürzung für diesen Namen ersonnen, einer sogar ein symbolisches Zeichen.
Sein Standort war an einer bestimmten Straßenecke im belebtesten Teile der Stadt. Wer nicht lediglich zum Spazierengehen auf der Welt war, mußte mindestens einmal im Tag an ihm vorbei; und wer an ihm vorbeiging, stieg vom Gehweg hinunter, denn der Dickkopf machte niemand Platz. Er grüßte auch niemand. Früher hatte er die Studenten dadurch ausgezeichnet, daß er an seine Dienstmannsmütze griff, und denjenigen Menschen, die er als Autoritäten anerkannte, wie dem Staatsanwalt, dem Prorektor und dem Oberpedell, hatte er vertraulich zugenickt. Jetzt aber war er für beides zu dick und faul geworden. Die Hände in den Hosentaschen, stand er da und starrte den Vorübergehenden ins Gesicht.
Zuweilen kam es vor, daß Fremde, die Hilfe brauchten, etwas betreten und zögernd den Dickkopf zu einem Dienstmannsgeschäft beanspruchten; die wies er dann mit einer kurzen Handbewegung über die Straße hinüber, wo andere Dienstmänner standen. Er selbst befaßte sich nur mit feiner Arbeit. Die bestand im Augenzwinkern und ein paar halblauten Worten. Es waren junge Frauenzimmer, parfümierte Damen in elegantem Putz, und solche im fahrigen Aufzug der stellenlosen Kellnerin, mit denen er, während sie vorbeihuschten, das Augenzwinkern und die halblauten Worte tauschte. Nicht die saubersten Geschäfte mochten es sein, von denen sich der Dickkopf täglich nährte und häufig betrank. Aber er hatte auch seine Verdienste um die bürgerliche Gesellschaft. Zu den Leuten, denen er zublinzelte und die ihm Fragen zuraunten, gehörten auch die Geheimpolizisten der Stadt. So konnte man nicht wissen, ob es der sittlichen Ordnung zuleid oder zulieb sei, wenn er mit einem Male aus der faulen Ruhe aufbrach, seinen Platz verließ und wie ein Mann, der weiß, was er will, irgendeine Straße hinausschob. Dann faßten die Kindermädchen ihre Pflegebefohlenen um die Handknöchel und stiegen mit ihnen vom Bürgersteig hinunter; die Kleinen aber sagten: »Der Dickkopf kommt.«
Dieser Dickkopf war es, auf den sonderbar genug im Konfirmandenunterricht die Rede kam. Der Pfarrer sprach von der Entheiligung des Sonntags. Seine Knaben waren fast lauter Armeleutekinder, aufgewachsen in den Gassen der Altstadt, ausgestattet mit einem Schatz von Anschauungen, um den sie keine Mutter aus dem Villenviertel beneidet hätte, der aber die Jungen nicht daran hinderte, so fröhlich und harmlos wie möglich in die Welt zu schauen. Deshalb fand der junge Geistliche Verständnis, als er bei seinen Erläuterungen in die Wirklichkeit griff. Aber freilich die Stimmung, die die Beispiele erzeugten, war eine ganz andere als seine eigene. Eine stille Heiterkeit verbreitete sich über die Gesichter der Knaben. Nicht als ob sie Allotria getrieben oder gelacht hätten, sie waren ganz bei der Sache; aber die Bilder, die an ihren Augen vorübergingen, belustigten sie, und es stellten sich aus ihrem Schatze andere ein von ähnlicher Art, Vorgänge der Gasse, der Stiegen und Hinterhöfe, und die Knaben machten gerade solche Augen, wie sie sie zu machen pflegten, wenn sie in Neugier und Spannung zuschauten, welchen Verlauf diese Vorgänge in der Wirklichkeit nahmen.
Am fröhlichsten sah das Peterlein aus seinen Augen. Das war ein kurzer, stämmiger Junge, weiß und rot im Gesicht, mit gelben, glatten Haaren und goldbraunen Sternen. Der brachte die Lippen gar nimmer zusammen; es kam ihm ein Lächeln über das andere. Die weißen Zähne blitzten, und die Augen strahlten den Lehrer an in schwelgender Wonne.
Das Peterlein war überhaupt eine lustige Haut, so kalt ihm der Wind durch die dünnen Hosen pfiff. Der Pfarrer hatte diese lichtbraunen Augen, aus denen das ganze Herz lachte, liebgewonnen, seitdem er einmal zwei große Tränen darin erschaut hatte; die waren hineingekommen, als der Pfarrer seinen Schülern aus »Onkel Toms Hütte« vorlas, wie die Mulattin Elisa, von den Sklavenjägern gehetzt, ihr Kind auf blutenden Füßen über die Eisblöcke des Ohio trug und drüben am rettenden Ufer niedersank – so weit war er gekommen –, da stieg ein tiefer Seufzer aus Peterleins Brust, und als der Vorleser innehielt und ausschaute, da sah er große Tränen in Peterleins Augen glänzen. Seitdem ruhte sein Blick gerne auf Peterleins sonnigem Angesicht, und ohne dessen bewußt zu werden, las er die Wirkung seiner Worte von ihm ab.
So tat er auch heute.
Als er sah, wie Peterleins Augen in Fröhlichkeit schwammen und sein Köpfchen sich neigte unter dem Übermaß des Behagens wie ein Blumenkelch unter dem Tau, da hielt der Pfarrer inne und wollte gerade abbrechen. Aber schon meldeten sich drei, vier Finger. Die Konfirmanden wollten nun ihrerseits, wie sie es gewohnt waren, etwas zur Unterhaltung beitragen.
Der erste, der aufgerufen wurde, deutete auf einen Mitschüler in der hintersten Bank und erzählte:
»Am letzten Sonntag ist dem Wolf sein Vater vom Wolf seiner Mutter aus dem Schottenhof geholt worden. Dort hat's Freibier gegeben. Dem Wolf sein Vater hat nimmer laufen kön–«
»Schweig und schäm' dich!« fuhr der Pfarrer den Jungen an.
Die Kinder wandten sich alle um und schauten nach dem Sprößling des würdigen Vaters. Der arme Kerl saß in blutroter Verlegenheit und starrte die Bank an. Das Peterlein aber machte flink wie der Blitz dem häßlichen Angeber eine Faust. Der Pfarrer ergriff die Hand am Knöchel, drückte sie leise auf das Brett und sagte: »Es war nicht bös gemeint; aber ihr wisset doch, daß ihr nichts übereinander und über eure Eltern hier in der Stunde sagen dürft. Wir wollen jetzt über was anderes reden. – Du, was willst du denn?«
Das Büblein eines Studentendieners stand auf und sagte: »Ich weiß noch was. Der Dickkopf –«
Ein schallendes Gelächter erfüllte die Stube.
»Da ist doch nichts zu lachen!« schalt der Pfarrer. »Was ist mit dem Dickkopf?«
»Der Dickkopf hat letzt beim Kommers unserer Herren fünfundzwanzig Liter Bier getrunken.«
»Wie kommt denn der Dickkopf auf den Kommers eurer Herren?«
»Er war Vizefax; er hat meinem Vater beim Schenken geholfen.«
»Der Dickkopf kann viel vertragen,« meinte ein Junge.
Ein neuer Sturm der Heiterkeit brach los.
»Still!« rief der Pfarrer, »Wie könnt ihr über so etwas Abscheuliches lachen! Mitleid solltet ihr haben mit dem armen Menschen. Der Dickkopf hat auch eine unsterbliche Seele.«
Überraschend war die Wirkung dieser Worte. Eine Weile war es still; dann aber brach das Peterlein in ein unbändiges Gelächter aus. Die anderen lachten mit, aber hörten bald wieder auf, denn sie wußten keinen Grund. Dem Peterlein aber erschien die Vorstellung von der unsterblichen Seele des Dickkopfs so komisch, daß er aus tiefstem Herzen lachen mußte. Der ganze Mensch war erschüttert. Hilflos schaute er den Lehrer an mit Augen, die ihn um Vergebung baten, und mühsam brachte er heraus: »Ich ... muß ... halt ... so arg ... lachen!«
»Das seh' ich,« sagte der Pfarrer, und in diesem Augenblick bemerkte er zum ersten Male, wie fein und schier geistreich die Lippen des Knaben geformt waren.
»Genug jetzt!« sagte er und strich dem Jungen, dessen Vater an den Pranger gestellt worden war, über den glattgeschorenen Schädel; dabei sah er aber das Peterlein an, dessen Augen auf einmal mit großem Blick wie ins Unendliche hinausschauten.
»Genug jetzt, Kinder! Singt mir noch ein Weihnachtslied!«
Die Knaben schnellten von ihren Sitzen. Nur das Peterlein erhob sich langsam. Er atmete aus der Tiefe, wie Kinder tun, wenn ein Gedanke sie bedrängt; dann schlug er sein Gesangbuch auf.
»Ich möchte wissen, was in seiner Seele vorgeht,« sagte der Geistliche zu sich, als er nach Hause ging. Dabei dachte er aber nicht an die unsterbliche Seele des Dickkopfs, sondern nur an das Peterlein.
Als das Peterlein von der Konfirmandenstunde nach Hause ging, begegnete ihm der Dickkopf. Den Schädel vorgestreckt gleich einem Mauerbrecher und mit den weitabstehenden Armen schlegelnd, schob er die Gasse herab. Das Peterlein ging ihm langsam entgegen und schaute ihn mit seinen großen, freundlichen Augen an. »Guten Tag, Dickkopf!« rief es ihm zu, als es ihm auswich.
Der Dickkopf sagte etwas, das klang wie rm!, blieb stehen und wandte sich um. Da lachten ihm Peterleins Augen entgegen voll goldigen Sonnenscheins, und das Apfelgesichtchen nickte ihm freundlich zu. Dem Dickkopf war so etwas noch nie begegnet. Er wußte nicht, was das bedeuten sollte. Wäre sein Kopf nicht zu dick gewesen, hätte er ihn geschüttelt. So aber begnügte er sich, noch einmal zu brummen, wandte sich um und ging seines Weges.
Seit dieser Begegnung war zwischen dem Dickkopf und dem Peterlein ein Gespinst angefangen, und jeder zog einen neuen zarten Faden dazu.
Der Dickkopf stand auf seinem Platz, und wenn die Schulzeit kam, beehrte er die Hauptstraße mit seinem Rücken und schaute die Gasse hinab, von der das Peterlein herkam; war die Schulzeit um, so streckte er sich und schaute die Hauptstraße entlang, bis er Peterleins blaue Jacke entdeckt hatte. Das Peterlein lachte ihn schon von weitem an, der Dickkopf aber grinste über sein dickes Gesicht und nickte dem Peterlein freundschaftlicher zu, als er je einem Prorektor früher getan hätte. Und als ihm gar einmal das Peterlein am Fuße eines hohen Treppenhauses ein Briefchen aus der Hand genommen und gesagt hatte: »Ich will dir's schnell hinauftragen, Dickkopf, o ich weiß, an Fräulein Loni vom Varieté« – da faßte der Dickkopf einen großen Entschluß; und als er am Tage vor dem Fest in der besten Konditorei der Stadt seine Aufträge als Kommissionär besorgt hatte, fügte er mit besonderer Eindringlichkeit eine Privatbestellung hinzu.
Es war die letzte Rüstzeit des heiligen Abends. Schon wurden hier und dort, wo die Kinder noch klein waren und früh zu Bett sollten, die Lichter des Christbaums angezündet, und wo der Kerzenglanz noch säumte, da lauschte er hinter den Gardinen, bis alles für ihn bereitet sei.
In den Lebensmittelläden war ein hastiges Wesen. In einsilbiger Eilfertigkeit machten die Verkäufer ihre Sache ab, und die Kunden waren so ungeduldig wie die törichten Jungfrauen beim Ölkrämer. So verkrochen sich die letzten Zipfel des Werktages; sie konnten's kaum hurtig genug, denn sie schämten sich vor dem aufsteigenden Schimmer der heiligen Nacht.
In dem Wurstladen auf dem Georgenplatz hielt der Werktag am längsten aus, und das Peterlein mußte ihm dabei helfen. Es saß auf einem Bänkchen an dem großen Ladenfenster, hatte seine ernsthafte Amtsmiene aufgesetzt, und seine Augen folgten aufmerksam den Gebärden der Verkäuferin. In seinem Arm lehnte eine Stange mit eisernem Haken, und kaum hatte die Verkäuferin mit sanftem Augenaufschlag »Schwartenmagen!« oder »Schinkenwurst!« gesagt, so hatte das Peterlein das Verlangte von der Decke heruntergeholt und den dicken Wulst auf den Marmortisch gelegt.
Endlich war die letzte Köchin draußen. »Gottlob!« sagte die Verkäuferin und ließ den Rolladen herunterschnurren.
»Komm, Peterlein, jetzt sollst du dein Christkindchen haben.«
Sie führte den Knaben in das Nebenzimmer. Ein Weihnachtsbäumchen stand auf dem Tisch. Das Mädchen zündete einige Lichtchen an und sagte: »Hier die zehn Mark und das Zuckerbrot sind von der Herrschaft; die Strümpfe habe ich dir gestrickt. So, jetzt nimm alles zusammen und geh flugs heim. Aber halt, den Schinken hast du noch zu besorgen zu Professor Persius in der Gartenstraße. Laß dir ihn gleich von der Köchin bezahlen!«
Das Peterlein bedankte sich schön und steckte seine Gaben in die Taschen. Aber alsbald packte es die Strümpfe und das Zuckerbrot wieder aus und sagte: »Ich will lieber später meine Sachen holen, ich kann sonst nicht so schnell laufen. Können Sie mir nicht statt des Goldstücks zwei Fünfmarktaler geben?«
Das Mädchen ging in den Laden hinaus und suchte in der Kasse, während das Peterlein die Strümpfe und das Zuckerbrot in einen Pack zusammenschnürte.
»Hier sind zwei funkelnagelneue!« sagte das Mädchen und legte die Silberstücke auf den Tisch. Das Peterlein dankte, steckte die Münzen in die Tasche, nahm den Schinken unter den Arm und griff nach seiner Mütze. Aber unter der Türe wandte es sich um und sagte: »Fräulein Anna, darf ich den Weihnachtsbaum mitnehmen?«
»Den Weihnachtsbaum? Den hat unser Fräulein für das ganze Personal gebracht. Aber die andern werden ihn nicht vermissen. Du bist der Jüngste. Nimm ihn nur und trag ihn heim, ich will's verantworten. Aber besorg' mir den Schinken heute noch!«
»Vielen schönen Dank und vergnügte Feiertage!« sagte das Peterlein und gab dem Mädchen die Hand. Dann legte er sein Päcklein in den Fensterwinkel. »Morgen hol' ich's!« Und er nahm den Schinken unter den Arm, setzte die Mütze auf und ergriff das Bäumchen mit beiden Händen unten am Stamm. Die Verkäuferin öffnete die Tür. »Gute Nacht!« »Gute Nacht!«
Langsam und vorsichtig ging das Peterlein die nächste Gasse hinab. Bei jedem Schritt schlugen die Glasglöckchen an und klirrten leise. Es war finster zwischen den hohen Mauern, denn diese hatten keine Fenster, und die einzige Gaslaterne brannte unten am Ausgange der Gasse. Wer oben stand und hinunterschaute, sah nichts, aber hörte, wie die geheimnisvollen Stimmlein des Weihnachtsbaumes die Gasse hinunterschwebten. Jetzt hörte das Klirren auf, denn das Peterlein war stehen geblieben: der Schinken wollte ihm hinunterrutschen. Das Peterlein bückte sich, stellte das Bäumchen auf den Boden und schob den Schinken in die Achselhöhle hinauf. Dann ergriff es das Bäumchen wieder mit beiden Händen und ging sachte, sachte weiter.
Der Dickkopf wohnte zum Glück ganz nahe. Er hauste in der Gerbergasse. Die hatte keine Hausnummer: rechts war sie von einer Fabrikmauer begrenzt, links von den Hinterhöfen und Lohkammern einer weitläufigen Gerberei. In einem der Speicher, zu denen die Höfe führten, wohnte der Dickkopf.
Der Knabe hielt vor dem Hoftorpförtchen. Es stand auf. Der Kettenhund knurrte, aber die Kinderschritte mochten ihn beruhigt haben: er legte sich wieder in seine Hütte.
Mitten über dem Hof hing eine düster brennende Laterne. Ihr Schein beleuchtete eine schmale steinerne Treppe, die zu dem gegenüberliegenden Gebäude führte.
Das Peterlein stieg langsam die Stufen hinauf und stand vor einer schwarzen Wand. Es stellte den Weihnachtsbaum neben sich vor die Schwelle und suchte mit den Händen in der Höhe. Jetzt hatte es die Klinke gefunden. Auch diese Tür war unverschlossen. Das Peterlein drückte sie auf, dann nahm es sein Bäumchen und trat in den Flur. Dicht neben der Tür hockte es sich auf den Boden und ließ den Schinken, der schön in blaues Packpapier eingewickelt war, in den Winkel gleiten; dann richtete es sich auf und ging rascher den dämmerigen Gang hin.
Am Ende des Ganges hing eine Ampel an der Wand. Dort ging's um die Ecke. Das Licht erhellte eine hölzerne Stiege. Das Peterlein eilte hinauf, so rasch es konnte, und stand in einem weiten Speicherraum. Zur rechten Hand waren einige unter das Dach gezimmerte Kammern, und eine an der Wand hängende Sturmlaterne lud ein, dorthin zu gehen. Das Peterlein schlich jetzt auf den Zehen. Vor der Tür, neben der die Laterne hing, blieb es stehen und las auf einer rosenroten Visitenkarte:
Dickkopf
Kommissionär.
Das Peterlein lächelte vergnügt, ging mit seinem Bäumchen hinter einen Kamin, wo Schutz vor dem Luftzug war, stellte das Bäumchen auf den Boden, in die Nähe von einem Haufen zerbröckeltem Lohkäse, holte ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete die Lichtchen an.
Der Dickkopf saß in seinem Zimmer und war in eine schriftliche Arbeit vertieft. Er saß auf einem blaugeblümten Sofa vor einem kleinen hölzernen Tisch. Vor ihm lag ein Bogen Briefpapier. Links oben, über den Worten »Geehrtes Fräulein Edith!« war eine rote Marke für die Antwort aufgeklebt. Er tauchte gerade gewichtig die Feder in das enghalsige Tintenfläschchen, um hinter das letzte Wort, das er geschrieben hatte, ein paar Ziffern zu malen; da öffnete sich leise die Tür und das Peterlein kam herein, auf den Zehen, barhäuptig, lächelnden Angesichts. Es winkte seinem Freunde Stillschweigen zu, ging leise auf den Tisch los, ergriff die Lampe, wie wenn es so sein müsse, und trug sie, ohne ein Wort zu sagen, mir nichts dir nichts zur Stube hinaus.
Auch der Dickkopf hatte kein Wort gesagt, so erstaunt und erschrocken war er. Er ließ den Federhalter in dem Tintenfläschchen stecken und strich sich mit der linken Hand über die Stirn. Da tat sich die Tür weit auf und das Peterlein kam noch einmal herein und hielt den brennenden Weihnachtsbaum in beiden Händen. Langsam und feierlich schritt es vor. In der Mitte der Stube blieb es stehen, hielt den Weihnachtsbaum zur Seite, so daß sein Köpfchen frei war, schaute dem Dickkopf mit seinen Augen ins Gesicht und rief mit glockenheller Stimme:
»Fürchte dich nicht, Dickkopf, siehe, ich verkündige dir große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn dir ist heute der Heiland geboren, Dickkopf, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids!«
Hierauf trat das Peterlein an den Tisch und stellte das Bäumchen darauf, griff in die Tasche und legte das Fünfmarkstück davor. Es prüfte mit den Augen, ob der Baum gerade stünde. Dann schaute es noch einmal den Dickkopf lächelnd an, neigte sein Köpfchen, wandte sich langsam um und ging leise, wie es gekommen war, zur Tür hinaus.
Der Dickkopf stützte sein schweres Haupt zwischen die Hände und schaute in die Lichter seines Weihnachtsbaumes hinein. Er schaute das blanke Geldstück an und drehte es im Kreise herum. Es wurde ihm heiß und wunderlich zumute, und es ist nicht sicher, ob die schweren Tropfen, die auf das Fünfmarkstück niederfielen, von der Stirn oder anderswoher kamen. Mit schiefen Augen schaute er den Brief an, an dem er geschrieben hatte, und machte dabei ein Gesicht, wie er zu tun pflegte, wenn ihm das Bier nicht schmeckte. Er schob ihn zur Seite. Dann legte er beide Arme auf den Tisch und seinen dicken Kopf darauf; die Herzbewegung hatte ihm Schlaf gemacht.
Als das Peterlein den Schinken an seinen Ort getragen hatte, sprang es leichtfüßig und lustig seinem Hause zu. Ach, wie freute es sich auf seinen Weihnachtsbaum! Oben an der Gerbergasse dachte es: »Will doch schauen, ob seiner noch brennt!«
Es lief die Gasse hinunter, öffnete das Hoftor und schaute zum Fenster hinaus. Ja, der Weihnachtsbaum brannte noch.
Aber was ist das dort? Der unheimlich flackernde Lichtschein?
Das Peterlein wollte schreien, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Einen Augenblick stand es starr. Dann flog es wie der Wind an dem heulenden Kettenhund vorbei die steinerne Treppe hinauf. Die Tür war offen. Das Peterlein stürzte hinein. Ein heftiger Luftzug kam ihm entgegen und klirrend fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.
Vom Boden herunter den Gang her wirbelte schwarzer Rauch. Das Peterlein flog die Stiege hinauf. Durch den Speicher sauste der Wind und jagte die Flammen auf den Dielen hin und drückte sie an die Bretterwand; sie quollen aus dem Winkel, wo das Peterlein vorhin den Weihnachtsbaum angezündet hatte.
Das Peterlein stürzte in die Kammer. Die war schon voller Rauch, und die Lichte des Weihnachtsbaumes brannten trübrot. Der Dickkopf aber hatte den Kopf auf die Arme gelegt und schlief.
Ach, wenn der Dickkopf schlief, dann gab's ein Stück!
»Dickkopf!« rief das Peterlein und rüttelte den Mann. Aber der schlief und schlief.
»Dickkopf, lieber Dickkopf, so wach' doch auf!« jammerte der Knabe und versuchte es, das schwere Haupt in die Höhe zu heben.
Da, endlich schlug der Dickkopf die Augen auf. Aber im nächsten Augenblick sah er sich entsetzt um. Die Stube war voller Rauch, und draußen auf dem Speicher schwirrte die Flamme.
Er sprang von seinem Sitz und eilte mit Peterlein zur Tür hinaus. Ein großer Teil des Speichers war voller Feuer, doch war der Weg zur Stiege noch frei. Hand in Hand sprangen sie darauf zu. Aber unterwegs fiel dem Dickkopf sein Fünfmarkstück ein.
»Lauf!« keuchte er; »ich habe etwas vergessen.«
»Ich bleibe bei dir!«
»Nein! Spring! Ich komme gleich nach.«
Der Dickkopf eilte ins Zimmer zurück. Die Tür ließ er hinter sich offen stehen. Er suchte auf dem Tisch, auf dem Boden; der Feuerschein vom Speicher hier leuchtete ihm dabei. Endlich im Fensterwinkel fand er sein Weihnachtsgeschenk. Er eilte hinaus und sah, daß das Feuer bis an die Stiege gelaufen war, auch von unten leckten schon die Flämmchen herauf. Das Peterlein mußte längst im Freien sein. So eilte der Dickkopf einer andern Stiege zu, die in den großen Vorderhof mündete.
Das Peterlein aber stand unten hinter der Tür, durch die es gekommen war. Die Tür war in der Falle, und sie hatte keine Klinke.
Ach, wohl besaß sie eine Klinke, aber die war aus dem Schloß gefallen, als der Wind die Tür hinter dem Peterlein zugeschlagen hatte, und jetzt lag sie unten auf dem Boden dicht neben dem Türbrett. Das Peterlein in seiner Todesangst dachte nicht daran, daß die Klinke unten liegen könne; es dachte überhaupt nichts. Mit zitternden Händen griff es und griff es; ja, hier war das Loch, hier war der eiserne Stift, es konnte ihn fassen mit den Fingerspitzen, aber öffnen konnte es nicht. Da lief das arme Kind den raucherfüllten Gang zurück, die Stiege hinauf über die züngelnden Flammen hinweg in den schauerlich erleuchteten Speicher hinein, und »Dickkopf! Dickkopf!« rief es jammernd in den qualmenden Rauch und in das tobende Feuer.
»Unkraut verdirbt nicht, der Dickkopf ist da,« sagten draußen die Löschenden zueinander. »Es wohnt kein anderer Mensch drinnen. Lasset den alten Kasten verbrennen!«
Und sie richteten die Schläuche auf die umliegenden Gebäude.
»Dort ist jemand!« rief plötzlich eine helle Kinderstimme. »Oben am Fenster.«
Hundert Augen richteten sich in die Höhe. Es war nichts zu sehen als der flackernde Schein.
»Ein Mensch!« schrie ein Feuerwehrmann.
Jetzt hatten es die hundert Augen gesehen. »Es ist ein Knabe, er ist am Fenster vorbeigelaufen.«
»Das Peterlein ist's!« rief eine Kinderstimme.
Es wurde todesstill unter den Männern, aber nur für einen Augenblick: dann gellten die Signale, und die Wasserstrahlen zielten nach jener Stelle hin.
Die auflodernden Flammten spotteten des ohnmächtigen Taus. Man legte eine Leiter an, aber das durchglühte Gebälk zerbrach unter ihrer Last. Zwei todesmutige Männer stürzten nach der einzigen noch zugänglichen Tür, aber als sie sie aufgestoßen hatten, trieb sie die Gewalt des Qualmes zurück.
»Es darf kein Mensch hinein,« rief der befehlende Beamte. »Rettung ist unmöglich. Kein weiteres Leben darf gefährdet werden!«
Da schob sich eine dicke Gestalt durch die Menge. Wer nicht auswich, wurde sanft, aber nachdrücklich auf die Seite gestellt. Gerade auf die Treppe steuerte sie zu, den dicken Kopf vorausgestreckt gleich einem Sturmbock und mit den Armen segelnd, gerade so, wie sie durch die Hauptstraße zu schnauben pflegte.
»Haltet ihn zurück!«
Aber der Dickkopf schleuderte den Schutzmann, der ihm den Weg abgelaufen hatte, die Treppe hinunter, und ging wie einer, der's eilig hat, durch die glührote Luft auf die qualmende Pforte zu – und zur Pforte hinein.
»Peterlein!«
»Dickkopf!«
Und er hielt den Knaben in den Armen, hob ihn an die Brust, das Kind schlang die Arme um seinen Hals und barg das Gesicht an seiner Schulter. Der Rauch wirbelte heran, den Mann zu erwürgen. Aber das Herz, das an seinem Herzen klopfte, gab ihm Kraft. Er raffte sich auf und schritt mit seiner Last über die heißen Balken an den düster glühenden Wänden hin durch die qualmende Nacht. Ein Funkengesprüh schnitt ihm den Rückweg ab. So wankte er dem Winkel zu, wo eine an die Mauer geschmiedete Leiter in die Häutekammer hinabführte.
Draußen hörte man nichts als das Knarren der Spritzen und halblaute Kommandoworte. Sekunde um Sekunde verging. Aller Augen schauten nach der Pforte, durch die der Dickkopf verschwunden war; es qualmte und qualmte aus ihr, und jetzt schlug die erste schlanke Lohe heraus.
»Sie sind verloren«, sagte der Oberbürgermeister zum Polizeiamtmann.
Da rief die Kinderstimme von vorhin: »Dort steht er!«
»Wo? Wo?«
»Dort unten, hinter dem vergitterten Fenster.«
»Wasser! Wasser!« schrie eine heisere Stimme aus dem Haufen. »Zielt über das Fenster, der Strahl wirft ihm sonst um!«
»Er hat das Kind im Arm! Das Fenster ist vergittert! Eine Eisenstange her! Sie können nicht heraus! Stoßt den Krems hinein! Um Gottes willen, schnell!«
Dann wurde es wieder still auf dem weiten Platz. Und jetzt hörte man die dumpfen Stöße, die Rettung bringen sollten. Aber nach dem dritten warf der Grobschmied heulend das Rammeisen weg, das noch eine Weile in der Lache auf dem Boden rauchte.
»Mehr Wasser! Sonst kann kein Mensch arbeiten!!«
Ein zweiter war herangesprungen und schwang einen triefenden Balken und stieß ihn gegen das Gitter. Aber obgleich ihn der Sprühregen überschüttete, der von der Mauer zurückprallte, jagte ihn die fürchterliche Hitze weg.
Der Krems hielt noch. Ein dritter von den todesverachtenden Männern sprang herzu über den brennenden Balken hinweg und holte aus zum Stoß.
»Halt!« rief eine helle Stimme. »Nicht stoßen!«
Der Mann warf das Eisen weg und sprang dicht an das Fenster. Da sah man, wie der Dickkopf mit seinen aufflammenden Händen das Gitter aus den Steinen riß. Der Mann draußen griff mit seinen Armen zum Fenster hinein. Da brannte sein Wams. Der Wasserstrahl wurde auf den Retter gerichtet und warf ihn zu Boden. Ein anderer sprang ans Fenster. Hinter dem Fenster, von Flammen umwogt, stand der Dickkopf. Er sah in der Rindshaut, die er um sich geschlagen hatte, noch unförmlicher aus als sonst.
Er ist nimmer da. Er ist zu Boden gestürzt. Jetzt ist er wieder aufgestanden. Er hält das in ein Fell geschlagene Kind in den Händen und schiebt es behutsam aus der Luke, so wie der Postschaffner ein lang geratenes Paket zum Schalter hinausschiebt.
Nicht nur zwei – vier, sechs Hände nehmen's in Empfang. Zwei Männer tragen's durch die Menge, in der sich still eilte Gasse bildet.
»Das Peterlein lebt!« ruft jemand. »Der Arzt sagt, es komme davon!« schallt es aus einem Schuppen hierüber, in den man das Kind getragen hatte. Ein Jubelschrei erfüllt die Luft.
Wie es verhallt, ruft die Kinderstimme: »Der Dickkopf!«
Alle schauen nach dem Fenster, aus dem sich leuchtender Qualm drängt.
Vorhin hatte er seinen Kopf und die Arme herausgestreckt, ein irregegangener Wasserstrahl hat ihn zurückgeworfen. Mehrere behaupten, jeder sagt's dem andern nach, keiner hat's gesehen. Der Raum hinter dem Fenster ist mit blendendem Rauch erfüllt. Jetzt schlägt eine Flamme vom Boden in die Höhe und leckt zum Fenster heraus, aber sie zieht ihre Zunge gleich wieder zurück, denn draußen gibt es nichts zu fressen.
Als der Tag graute, war die Gerberei niedergebrannt bis auf das wenige Gemäuer.
Das Peterlein war in das Krankenhaus verbracht worden. Es lag in einem weißen Bett, über und über verbunden. Von dem Gesicht sah man nur die Nasenspitze und die Augen.
Soeben hatte der Arzt den Verband erneuert. Er stand in der Fensternische und sagte zur Oberschwester: »Es tut ihm nichts. Das Rindsfell hat ihn wunderbar geschützt.« Da kam ein Aufwärter in den Saal herein und brachte eine große runde Holzschachtel.
Die hat soeben ein Konditorsjunge für das Peterlein abgegeben. Er hätte sie ihm schon gestern abend bringen sollen, aber über dem Brand sei's vergessen worden. Er habe gehört, daß das Peterlein in das Krankenhaus gebracht worden sei, drum habe er die Schachtel gleich hierhergetragen.
So berichtete der Aufwärter der Diakonissin, die der Tür zunächst gewesen und darum herzugeeilt war.
Peterleins Pflegerin, die die Botschaft nur halb vernommen hatte, nahm der Schwester die Schachtel aus der Hand, legte sie auf das Bett des Knaben und hob den Deckel weg.
»Gib acht, gib acht,« sagte sie, »die schickt dir wohl der Oberbürgermeister. Er hat vorhin fragen lassen, wie's dir gehe.«
Der Knabe hob den Kopf ein wenig und schaute mit lächelnden Augen hin. Aber nach dem ersten Blick stieß er einen Schrei aus, so jammervoll, daß der junge Arzt erschrocken herbeieilte.
In fettem Zuckerguß trug die Prinzregententorte die Aufschrift:
Der Dickkopf
seinem lieben Peterlin
zum heiligen Christfest
Adolf Schmitthenner, 1854 - 1907