Der Wintermond kriecht übers Armenhaus und verzaubert den schmutzigen Entenpfuhl im Hofe in einen blanken, funkelnden Silberspiegel. Flimmernde Nebel webt er durch die Sparren des großen Leiterwagens. Und für die Sense, die am Futterschuppen hängt, holt er aus der Arbeitsstube des Teufels das Grauen. Dann wird er müde, zieht eine weiche Wolkendecke übers Gesicht und schläft ein Weilchen.

Beim Scheine einer zitternden, schläfrigen Stallaterne schreibt im Armenhause eine kleine Mädchenhand auf eine Schiefertafel: »Alle Jahre wieder kommt das Christuskind.«

Nach einer Weile werden im Rechenbuche die Zahlen müde. Die schönen Sprüche in der Bibel werden schläfrig. Die Lieder im Gesangbuch nicken ein. Und die Stallaterne verlöscht. Zwei Holzpantoffeln werden in die Ecke gestellt. Zwei nackte Füße schleichen vor ein wackliges Bett. Der Strohsack knistert. Nun ist alles ruhig.

Die Weihnachtszeile auf der Schiefertafel aber fängt an zu schimmern und zu lächeln und zu singen. Sie stellt um das alte Armenhausbett vier große Lilien. Sie weckt den Mond. Der taumelt silberklingend in die Armenhausstube. Und sie ruft den Wind. Der wirft die wurmstichige Armenhaustür in den Erlenbusch. Aber die Weihnachtszeile zaubert dafür eine Tür aus Rosen und macht einen Riegel daran aus Vergißmeinnicht. »Alle – Jahre – wieder – kommt – das – Christuskind.«

*

Im Gutshof klingt's bei Wein und Schinken und guten Zigarren: »Ja, morgen abend muß auch der Lehrer in den Krieg.«

In der Schenke klingt's bei Kartenspiel und schlechten Zigarren und Bier und einem alten, zerkauten Nachtwächterbart: »Jo, d'r Kaiser, unser Wilhelm, der holt sich jeden. Morjen muß o d'r Kanter dran jloben. 's hilft äm nischt. Mir müssen alle weg.«

In der Spinnstube klingt's, bei hurtigen Mädchenhänden und knisternden Reisigruten: »Nu hamm mer boole keen Schullehrer mehr. Morchen muß e fort. Alles jeht in Krieg, zu juterletzt sin alle Männer weg. Dann hamm mer jor keen mehr.« Und das klingt so vorwurfsvoll.

Ein junges Mädchen, hübsch, mit dicken Zöpfen und großen Augen, klopft noch spät bei der Großmutter vom Galgenmüller an. Die Alte kann richtig weissagen. Das Mädchen fragt schüchtern: »Großmutter, kannst du mir sagen, wie lange unser Kantor noch leben wird?« Die Alte streicht eine schneeschlohweiße Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen ist, in ihr buntes Kopftuch zurück, mischt die Karten und sagt: »Unser Lehrer wird so lange leben, bis aus dem Mühlstein ein Weinstock wächst.«

Sie haben ihn ja alle so lieb, den Herrn Lehrer mit dem trauten Dorfkindergemüt.

*

Die Engel im Himmel haben nichts zu tun.

Um Mitternacht fängt's an zu schneien und zu schneien.

Der liebe Gott will nämlich das ganze Dorf in eine weiße Schachtel packen. Die will er dann unter den Arm nehmen und will sie von den Engeln wieder auspacken lassen, damit die ein bißchen Arbeit bekommen.

Herr Cyprian, der Dorfmusiker, der auch im Armenhause wohnt, wankt aus dem Hause des Dorfschulzen. Seine Nase glüht im Mondenschein. In seiner Manteltasche wackelt eine Flasche und ein Stück Geburtstagskuchen. Der Dorfschulze hat nämlich mit Kuchen und Musik Geburtstag gefeiert. Auf dem Rücken des Herrn Cyprian hängt die große Pauke. Der kleine Junge vom Schulzen macht einen großen Schneeball, drückt ihn recht hart und schmeißt mit aller Kraft den Schneeball an die Pauke des Herrn Cyprian. Das ganze Dorf brummt. – – – Brumm – mm! –

Herr Cyprian verliert vor Schreck das Gleichgewicht und schreit: »De Russen sin do! Kinner! Kinner! Ich kann nich mehr uff! Ich kann nich mehr uff! Hat dersch jehert! Enne Kannone! De Russen sin do!«

*

Am andern Morgen, um zehn Uhr, sind die kleinsten Schulkinder in der Klasse. Sie lachen und erzählen sich wunderliche Sachen vom Kriege. Die kleine, frierende Bettelchristel sieht sich ihre Schiefertafel an. Der Schnee hat die schimmernde Weihnachtszeile ausgelöscht. Die nassen, blonden Haarsträhnen hängen über die Tafel. Ratlos, voll weinender Lieblichkeit, wandern zwei blaue Augen in der Schule umher.

Der Lehrer kommt. Man sieht es ihm nicht an, daß er in den Krieg muß. Er sieht sogar sehr lustig aus. Da steht die kleine Else vom Gutsherrn auf, geht an den Klassentisch und gibt dem Lehrer ein paar warme Kniewärmer. Seiferts Wilhelm geht auch vor und gibt dem Lehrer zwei dicke Schlackwürste. Und das geht die ganze Klasse durch bis auf die kleine Bettelchristel. Die bringt ein Stück Geburtstagskuchen, das ihr Herr Cyprian, der Dorfmusiker, geschenkt hat.

Die Stimme des Lehrers ist ganz weich geworden. Er fragt: »Aber warum schenkt ihr mir denn das alles?«

»Weil de in Krieg mußt,« sagt die eine.

»Daß de nich frierst,« sagt der andere.

»Daß de de Russen recht verdreschen kannst,« sagt wieder eine.

Verlegen und rot und ganz leise sagt das kleine Bettelmädchen: »Weil – de – so e – liewer – Lehrer – bist.«

*

Auf dem Klassentisch liegt ein ganzer Berg voll Gaben. Die liegen so gleichgültig da. Die kleine Bettelmädchenantwort singt um die Bücher des Lehrers, kriecht in seine Geige, tanzt um sein Tintenfaß und legt sich zärtlich in sein Schullehrerherz und singt dort drin und lacht dort drin und macht das Herz ganz warm.

Der Kantor steht auf und streichelt zärtlich über das nasse Bettelmädchenhaar. Und nun weiß er, daß er all diese Gaben auf dem Tische vergessen wird. Nur das eine wird er nicht vergessen: »Weil – de – so e – liewer – Lehrer – bist.«

Der Küster läutet.

Langsam wird die Klasse leer.

*

Am Abend, mit den ersten Sternen, ist der Lehrer zur Bahn gegangen. Irgendwohin, nach Frankreich oder nach Rußland, ich weiß es nicht.

Max Jungnickel, 1890 - 1945

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