Der erste Anblick eines Ortes wie Bethlehem macht einen seltsamen Eindruck auf die Seele; es ist, wie wenn plötzlich das Bild, welches schon in der Kindheit der Seele vorgestellt und eingeprägt wurde, aus der innerlichen Vorstellung herausträte und nun zu einer alten Heimat, ja wie ein materiell, Stein gewordener Teil der eigenen Seele; und sie fliegt mit dem Blick grüßend schon von ferne dem mehr nach Bethlehem als nach Jerusalem, weil das neugeborne Jesuskind der Verwandtschaft wegen dem Kinde interessanter uns süßer ist als der sterbende Schmerzensmann auf Golgatha.
Bethlehem lag vor uns auf einer Anhöhe, die Gegend ist viel besser angebaut, besonders mit Ölbäumen, als wir es in Palästina bisher gesehen hatten. Es war schon Abend, als wir in die Stadt einritten. Eine große Zahl der Einwohner saß und stand feiertäglich gekleidet umher, denn Bethlehem ist in einer Weise vorherrschend katholisch, wie wohl keine Stadt im Orient. Weil es gerade Ostern war, hatten sie ihre beste, farbenreiche Kleidung an; die Tracht der langen, weiten Gewänder ist sehr malerisch. Noch viel schöner aber war die ungemeine Freundlichkeit, mit welcher uns die Leute empfingen. Große und Kleine grüßten uns teils, teils zeigten sie in sanftem, heiterem Lächeln ihre Freude, dass so viele Christen aus dem Abendlande hierher kommen. Besonders viel mir die Schönheit der Leute auf; sie ist ausgezeichneter und allgemeiner, als ich sie in irgendeinem Ort von Palästina sah. Juden dürfen keine in Bethlehem wohnen, gewiss nicht ohne Fügung Gottes, sowie auch in Nazareth nicht. Der Jude hat auch in beiden Orten nichts zu suchen, was für sein religiöses Andenken von großem Wert wäre. Es muss aber dem christlichen Bethlehemiten ein eigentümliches Gefühl geweckt werden durch das Bewusstsein, der leiblichen Abstammung nach denselben Geburtsort mit dem Heiland der Welt zu haben, ein Landsmann von ihm zu sein; auch in dieser Beziehung war mir der Anblick dieser schönen, freundlichen Bewohner von Bethlehem interessant. Bethlehem muss selbst dem Menschensohn in seiner Verherrlichung eine liebreiche Erinnerung von der Erde sein. Dort kamen die Hirten und Weisen, ihm als Kind zu huldigen; die Bewohner von Bethlehem haben nicht wie die von Nazareth und Jerusalem ihn verfolgt; ja die Kinder von Bethlehem waren seinetwegen die ersten Märtyrer. Darum mag über diesem Ort jetzt noch immer ein freundlicher Segen des Herrn ruhen.
Bevor wir im Kloster einkehrten, wollten wir vorerst den Ort besuchen, wo die Engel ihnen die frohe Botschaft verkündigte. Man steigt etwa 20 Treppen hinab. Ich zweifle nicht, dass dieses der richtige Ort war; denn seit jener Zeit sind gewiss die Christusgläubigen bis auf den heutigen Tag in Bethlehem nicht mehr ausgegangen, weshalb auch die Wissenschaft des Ortes nicht ausgehen konnte, den die Hirten ihren Nachkommen zeigten, dass dort die himmlische Erscheinung zu ihnen gekommen und geredet habe. Später war von der Kaiserin Helena eine Kirche über dieser Höhle erbaut; die Höhle ist geblieben, die Kirche aber längst zerstört; nur Steintrümmer und bis zum Boden abgebrochenes Gemäuer zeigen noch ihren Ort. Ein alter Araber, den ich in seinem Turban für einen Mohammedaner hielt, zündete Lichter an, zeigte uns die christliche Stelle an, uns in lateinischer Sprache vorzubeten das Vaterunser, den Englischen Gruß und den Glauben.
Es war schon tiefe Dämmerung geworden, als wir uns auf die Rückkehr nach Bethlehem machten, schon leuchteten angezündete Lichter von der Höhe herab; die Stadt sieht kellerartig aus, wie wenn sie aus lauter alten Burgen bestünde. Eine milde, weiche Luft war über das Tal ausgegossen, der reine Himmel funkelte mit seinen stillen Sternen herab, als wollte er uns leise mahnen, auch still zu sein. Da sahen wir, wie wenn die Christnacht aufs neue angebrochen wäre, neben unserem Weg Schafherden lagern und Hirten, die dabei wachten. In Rührung und Freude fühlte es die Seele, Gott zeige uns hier nicht nur den Ort, wo die heilige Nacht, Weihnacht, erschienen ist, sondern wie ein Vater freundlich den Kindern ein schönes Bild zeigt, so ließ uns Gott auch dort Hirten und Herden sehen, ein Bild, wie es in jener Nacht hier ausgesehen hat.
Als ich noch ein Kind war, erzählte mir zur Weihnachtszeit gewöhnlich ein so genanntes Krippelein die Geschichte des Festes auf anmutige Weise. Alles, was nur eine Kinderphantasie zur hellen Flamme anfachen kann, war da zu sehen: die Engelerscheinungen und der Stern in der Höhe; über den kristallfunkelnden Felsen die Stadt Jerusalem mit ihren Toren, Türmen und Zinnen; unten am Abhang weidende Schafherden; im Talgrund der Stall mit dem Kinde, Maria und Joseph, den anbetenden Hirten und Weisen - und allerlei Volk, Marktleute, selbst Jäger und Wild belebten die Wege, welche sich den Berg hinaufschlängelten. Das war für die Kinderseele. Jetzt wollte mir der gütige Gott in anderer Weise abermals eine Christnacht oder ein lebendiges Andenken daran vorführen, wie es dem reiferen Manne noch mehr Freude wecken musste als einst das Kripplein dem Kinde.
Wenn es sich hätte tun lassen, allein zurückzubleiben und die Nacht in jenem Hirtental einsam betrachtend zuzubringen, dies hätte gewiss noch viel mächtiger auf die Seele gewirkt als das Übernachten in der heiligen Grabkirche. Denn so heilig daselbst auch die Stätte sind, so sind sie eben doch alle gleichsam unsichtbar geworden durch Überbau und Marmorverkleidung, während jenes Tal noch Wiese ist, und Herden und Hirten dort weilen und Himmel mit seinen Sternen sich darüber wölbt wie vor mehr denn 1900 Jahren, als die Engel ihren Lobgesang dort sangen.
Alban Stolz, 1808 - 1883