"Die Nachtigall mit süßem Schall
Singt alles gleich vom Blatt", -

so tönte eine helle Knabenstimme aus der Scheunentür, und wahrlich, sie klang wie ein Glöcklein in dem hohen Raum.

"Mach' doch, dass der Franz nicht immer singt, ich hör's nicht gern", brummte drin in der Stube der alte Vater, der bleich und matt auf dem Ofentritt saß und bedenklich an seinen dick umwickelten Beinen, in denen der Rheumatismus ihn plagte, nieder blickte. Vergebens hatte er sich an den warmen Ort geflüchtet, in der Hoffnung, hier die Schmerzen zu lindern; sie blieben so heftig wie zuvor. Es war draußen auch schon so feuchtkalt, und der graue Nebel hing schwer vor den Fenstern. Der Vater war sonst gleichmäßiger in der Stimmung gewesen, aber seit der Rheumatismus ihn zwang, in der Stube zu sitzen, während draußen noch die Herbstarbeit zu tun war - seitdem sah es in seinem Innern aus wie ein hässlicher, grauer Nebeltag. Dass er gerade jetzt krank werden sollte, und dass die Buben nun ganz allein schalten mussten, das wurmte im Herzen des alten Mannes, der sein Leben lang gesund und tätig gewesen war. Zwar kannte er den lieben Gott und hatte in seinem Hause fleißig in Gottes Wort gelesen, er galt auch weit im Lande für einen frommen Mann; aber der Nebel war gekommen und hatte ihm das Licht verdunkelt, dass er nicht mehr durchsah. Er verstand den lieben Gott durchaus nicht und dachte, er wolle jetzt nur ein wenig das Gesicht von ihm wegnehmen, vielleicht tue es ihm dann leid, dass er ihn so plage, und dann nehme er das Übel weg, und alles sei wieder gut. Es ist nicht immer leicht, in den bösen Tagen dem lieben Gott frei und offen ins Auge zu schauen.

Die Mutte hatte viel zu tragen; es tat ihr weh, dass niemand seine Sache recht machen konnte, und dass vor allem der Franz manch scharfes Wort zu hören bekam. Darum ging sie heute still hinaus und sagte: "Franz, sing' nicht so laut, der Vater mag's nicht gern!"

"Ja, du hast ja erst vorhin gesagt: "Rechne nicht immer, das ist nicht gut"; was soll ich denn tun?" Die Mutter lachte. "Ist's nicht genug am Rüben schnätzeln , muss der Mund durchaus etwas mittun? Nun, dann versuch's, still zu singen, weißt du - einwärts, nicht auswärts!"

Der Franz hackte mit seinem Messer auf und ab, so dass die gelben Scheiben der großen Rüben nur so umherflogen. Und jetzt kam es ihm wieder in den Sinn: "Ein Gesangbuch kostet eine Mark; wenn ich mein Kaninchen verkaufen könnte um eine Mark zwanzig Pfennige, so blieben mir noch zwanzig Pfennige übrig. Wenn ich nur wüsste, wo ich es verkaufen könnte!" Franz hackte fürchterlich drauf los, und der Ausdruck seines Gesichts wurde ein wenig verzweifelter, je mehr er daran dachte, wie notwendig er ein Gesangbuch haben sollte für die Schule, die im Winter wieder regelmäßig gehalten wurde. Aber der Vater wollte ihm das Geld dazu nicht geben. Das Gesangbuch fraß ihm am Herzen wie ein nagender Wurm. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, fröhliche Hoffnung strahlte aus seinen blauen, gutherzigen Augen, und mit erneuter Behändigkeit hackte er seine Rüben entzwei.

Die Zeit des Nachtessens kam. Der Vater saß so stramm als möglich mit bei Tisch und löffelte mit aus der großen Schüssel dampfenden Milchbreies. Heiner und Jörg klapperten tapfer mit. Da tönte plötzlich Franzens Stimme über die Löffelmusik: "Mutter, nicht wahr, es ist bald Martini?"

"Ja, in acht Tagen", lautete die kurze Antwort. "Dann ist mein Geburtstag; könntest du mir nicht dann ein Gesangbuch schenken? Ich möchte auch Geburtstag feiern wie andere. Mutter, warum feiert man meinen Geburtstag nicht?" Die Stimme des Knaben ward immer dringlicher und bittender, je mehr er die Blicke der Brüder groß und verwundert auf sich ruhen fühlte. Er schwieg, und es entstand eine Stille. Als die Mutter endlich den Mund öffnen wollte, ertönte schon Vaters Stimme scharf und strenge: "Was, deinen Geburtstag sollte man feiern? Nein, den feiern wir nicht, dazu haben wir keine Ursache!" Franz schaute ganz erschrocken auf. Hatte er etwas Böses gesagt? Warum machen die Buben so sonderbare Gesichter? Und warum tönte des Vaters Stimme so ernst? Sein kleines Herz krampfte sich ängstlich zusammen. Er hatte keine Ahnung, dass er mit seiner Frage einen wunden Punkt des Hauses, über den seit Jahren die Decke des Schweigens lag, berührt hatte. Vater und Mutter waren eigentlich nicht Vater und Mutter für ihn; man hatte ihn nur in dem Glauben erzogen. Der eigene Vater war weit fortgegangen nach Amerika, die Mutter diente in einer großen Stadt. Sie durfte zu den Eltern nicht mehr kommen. Ihren Jungen wollten sie aufziehen wie einen eigenen; das arme Würmlein dauerte sie als es eines Tages schmal und bleich vor ihrer Tür lag; aber erst wenn er erwachsen sein würde, sollte er erfahren, wo seine Mutter sei. Und nun sollte der Vater seinen Geburtstag feiern, den Tag, der ihm Tränen und Weh gekostet, der ihm die Tochter für immer vom Herzen gerissen! Als die Mutter den Tisch abdeckte und Franz trübselig an ihr vorbeischlich, strich sie ihm liebkosend über den blonden Krauskopf und sagte: "Nimm dir's nicht so zu Herzen, was der Vater sagte. Er meint's nicht böse. Die Schmerzen machen ihn mürrisch!"

Martini war ungefeiert vorübergegangen. Das Kaninchen hatte sich nicht verkaufen lassen, deshalb war auch kein Gesangbuch gekauft worden, und die Sehnsucht danach war in dem kleinen Herzen immer noch brennend geblieben. Aber Franz schwieg und sang nur aus dem Herzen, so oft er allein war. Seiner Stimme zuzuhören, war für jedes Ohr eine Freude, und die Mutter dachte oft im stillen: "So singen sie gewiss im Himmel."

Der Vater war immer noch krank, ja, er wurde täglich kränker. Nur noch stundenweise stand er aus dem Bett auf und saß auf der warmen Ofenbank. Wenn er mit der Mutter allein war, ward er leicht wehmütig und sprach dann vom Sterben. Der Nebel hing immer noch vor dem Fenster und vor dem Herzen, das alte Vertrauen zu Gott war noch nicht recht wiedergekommen.

Es war vier Tage vor Weihnachten, da stellte sich Franz neben die Mutter an den Herd auf dem die Holzscheide knackten und sagte: "Du, Mutter, alle Leute feiern Christkindleins Geburtstag, das können wir wohl auch, nicht? Das ist doch wert zu feiern?" Ganz herausfordernd schauten die blauen Augen die Mutter an.

Diese hatte das Gespräch von damals längst vergessen, wusste also nicht, worauf der Junge anspielte, und sagte deshalb harmlos: "Gewiss ist das Christkind es wert, dass man es feiert. Wir alle sind ja so froh, dass es kam. Aber, ob wir's nun feiern, weiß ich nicht recht. Weißt, der Vater ist gar krank!" "Ja - aber", erwiderte Franz, der diesmal die Schlacht nicht gleich verlieren wollte, "alle Menschen feiern das Christkindlein. Der Lehrer sagt, es sei gekommen für die Reichen und für die Armen; da ist es gewiss auch für die Kranken gekommen! Meinst du nicht? Ach, Mutter, lass mich aus dem Walde ein Bäumlein holen! Du sollst gewiss keine Mühe damit haben; nur ein paar Kerzenstümpfchen musst du mir schenken. Bitte, erlaub' mir's!"

Die Mutter schaute tief in das bittende Gesicht des Jungen und sagte: "Ja." Sie wusste, wie schwer man ein Kinderherz betrübt, wenn man immer "nein" sagt, und Franz musste das Wort oft genug hören. Auch sehnte sich ihr eigen Herz so sehr nach einem Strahl der warmen, treuen Gottesliebe, dass es sich kindlich an die Hoffnung festklammerte, er komme wirklich und gewiss in der Feier der seligen, stillen Christnacht. Sie schaute ganz dankbar und hoffnungsvoll dem fröhlichen Jungen nach, der eifrig mit einer rostigen Axt davonrannte, um den Gedanken so schnell als möglich in die Tat umzusetzen.

Es ist kalte, sternklare Christnacht vom Kirchturm zu Bleikendorf tönen die Glocken herüber, hell, froh, feierlich. Der alte Vater sitzt auf seinem gewohnten Platz ganz allein in der leeren Wohnstube, die von der kleinen Öllampe mühselig erleuchtet wird. Er hört die Glockenklänge durch die Luft schweben, eigen schlagen sie an sein altes Herz und pochen: Mach' auf dem Klang, tu' auf dem Ton, wir feiern Christnacht! Ach, wenn er doch recht feiern könnte! So viele Jahre hat er's froh getan und hat stets dem Herrn Jesus danken können, dass er sein schönes Himmelreich verlassen habe, um den alten sündigen Jörg selig zu machen. Aber heute kann er's nicht. Er hat all die vielen Wochen den Nebel stehen lassen zwischen ihm und dem Herrgott und hat in seinem Herzen gemurrt: "Wenn du mir so böse Schmerzen schickst, dass es in den Gliedern zwickt und zwackt und mir nicht Ruhe lässt im Bett und nicht ruhe auf dem Stuhl, so will ich jetzt grad' auch nicht mehr viel an dich denken." So hat er sich durchgeschlagen durch die bösen Schmerzenstage und Nächte, und weil er mit dem lieben Gott in Feindschaft gelegen, hat ihm niemand geholfen sein Leid zu tragen, und darob ist sein Herz schier erlegen. Jetzt aber sehnt es sich nach dem Gottestrost und dem Vaterherzen; er hätte gern die Arme ausgestreckt, aber es braucht immer lange Zeit, bis ein trotziges Menschenherz sich beugt. Die Glocken tönen immer weiter: "Tu' auf die Tür!" "Warum sie mich wohl so lange allein lassen?" dachte der Vater und blickte sehnsüchtig nach der Tür. Siehe, da öffnete sie sich langsam und sachte, und herein schiebt sich ein Lichterbäumchen, breitästig und strahlend, und schickt seinen fröhlichen, jauchzenden Glanz in die einsame Stube und auf den stillen Mann am Ofen. Ängstlich schielt Franz hinter den Ästen hervor, ob der Vater keinen Protest erhebe gegen das herzige Bäumlein; als aber alles still bleibt, stellt er es auf den Tisch, und auf einen Wink der Mutter, die ihm ebenso ängstlich gefolgt war, hebt er zu singen an, erst leise, dann immer lauter und jubelnder:

Lobt Gott, ihr Christen, allzu gleich:
In seinem höchsten Thron, :
Der heut schließt auf sein Himmelreich:
Und schenkt uns seinen Sohn. :
Er kommt aus seines Vaters Schoß:
Und wird ein Kindlein klein, :
Er liegt dort elend, nackt und bloß:
In einem Krippelein. :
Er wird ein Knecht und ich ein Herr, :
Das mag ein Wechsel sein! :
Wie könnte doch wohl freundlicher:
Dein Herz, o Jesu, sein! :

Dem alten Vater schimmerte es vor dem Blick. Der Nebel zerriss, und plötzlich strömte es wie eitel Klarheit in sein Herz. "Also geliebet!" zuckte es durch seine Seele. Er ließ sein Taschentuch fallen, und als Franz hinlief und es aufhob, strich der Vater über seinen Krauskopf und sagte: "Das hast du gut gemacht!"

Als sich Franz umdrehte, sah er plötzlich die großen Brüder hinter dem Tisch sitzen; sie starrten mit großen, glänzenden Augen in die Lichter, und unter dem Bäumlein - da lag etwas, - Franz kannte es gleich - da lag ein schönes, neues Gesangbuch. "Mutter, jetzt kommt's, jetzt an Christkinds Geburtstag!" Wie der Blitz hatte er das Buch erfasst und drückte es laut jubelnd an sein Herz. "Dank, Mutter, Dank!" rief er und wollte sie umarmen. sie aber wehrte und sagte: "Ich weiß nichts davon. Ich glaube, das Christkind hat's selbst gebracht. Oder weiß der Jörg etwas davon?" Dieser aber knurrte etwas Unverständliches.

Freilich wusste der Jörg davon. Franz hatte wohl sein Bäumlein in der dunkelsten Ecke des Heubodens versteckt; aber so gut gelang's doch nicht, dass nicht der findige Bruder es entdeckt und Zweck und Ziel gewittert hätte. `s ist aber auch kein Bruderherz so hart, wie's manchmal scheint. Gestern hatte er beim Buchbinder in Bleikendorf ein neues, schönes Gesangbuch gekauft, um die alte Sehnsucht zu stillen.

Franzens Freude war auch eine reiche Belohnung für die Liebestat, und gleich wurde es aufgeschlagen und weiter gesungen - Lied um Lied dem Christkind zu Ehren, dass sie heute zu fröhlichen Kindern eines hellen, seligen Gottesreichs gemacht hatte.

Dem Christabend folgt die Silvesternacht. Wieder ist's Abend, und der Vater sitzt auf der Ofenbank; aber sein Auge blickt so freundlich, und sein Mund spricht so milde Worte wie seit Wochen nie. Der Riss im Nebel ist geblieben, und der Strahl von der Gottesklarheit hat ihm geholfen, die Schmerzen zu tragen und geduldig zu bleiben. Er hat noch mehr gewirkt als das.

Eine Frauengestalt sitzt neben ihm; man könnte sie für die Mutter halten, so ähnlich ist sie; aber sie ist zwanzig Jahre jünger. Heute ist sie gekommen und hat lange mit dem Vater gesprochen und viel dazu geweint. Jetzt lächelt sie freundlich. Sie haben Franz gesagt, das sei seine Mutter. Er begreift nicht, wie das so plötzlich sein soll, und beguckt sie von der Seite. Eins aber gefällt ihm an ihr. Sie hat dem Vater eine wollene Decke ums Knie gelegt, und nun sieht er so behaglich und umsorgt aus und sagt, es tut ihm wohl.

Als es in der Stube ganz still ist, sagt der Vater: "Franz, sing' eines von den Liedern der letzten Tage. Ich muss dich nun noch oft hören, damit es mir nicht fremd ist, wenn ich bald die Engel droben singen hör'. Bald ist's soweit!"

Der Mutter wollten die Tränen kommen. Franz aber hebt zu singen an, dass es tönt wie ein feines, reines Glöcklein, das das Schwinden des Jahres begleitet:

"Zuletzt müsst ihr doch haben recht,
Ihr seid nun worden Gott's Geschlecht;
Des danket Gott in Ewigkeit,
Geduldig, fröhlich, allezeit!"

Dann war's stille im kleinen Kreise, stille über den gefalteten Händen des Alten; aber es war die Stille eines friedlichen Herzens, das versöhnt ruhte in dem Willen Gottes.

Dora Schlatter, 1855 - 1915

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