Der Eisenbahnzug lief über Heide- und Moorland Norddeutschlands. Ab und zu pfiff er mit einem melancholischen Ton in den grauen Dezembernachmittag hinein und hielt an einer kleinen Dorfstation; dann schob er langsam, mit seinem schwarzen Qualm den kahlen Winterboden fegend, weiter. Die Gegend dehnte sich endlos tellerflach zu beiden Seiten. Am Horizont dunkle Waldstriche, zuweilen rechts und links in der Weite enge ärmliche Strohdächer, sonst nichts. Es war eine trübselige, tote Landschaft.

Der Zug war ein "gemischter", eigentlich nur ein Güterzug mit zwei eingeschalteten Personenwagen. Er rechnete nicht auf viel Passagiere, täuschte sich darin auch selten und heut, am Weihnachtsabendtage besonders nicht. Da und dort verließ ihn eine in ihrem Heimatort angelangte Bauernfrau, aber niemand stieg wieder ein. So saß Thieme Godermann mit seinem Paket bald ganz allein in einer Wagenabteilung. Er hätte nach seinen Umständen wohl in der zweiten Klasse fahren können, aber der löbliche Zug führte keine solche, und eigentlich war's ihm auf der harten Holzbank gemütlicher. Sie entsprach seiner Lebensgewohnheit mehr; man sah ihm auf den ersten Blick den Seemann an, Steuermann oder Schiffskapitän. Ersteres war er bis vor kurzem gewesen und stand jetzt im Begriff, letzteres zu werden. Mit achtunddreißig Jahren hatte er's dahin gebracht, sich selbst einen hübschen Schoner ausrüsten zu können, und er lag gegenwärtig, die Wiedereröffnung der Schifffahrt abwartend, zu Hamburg im Winterquartier. Aber das Warten wurde ihm in seiner einsamen Mietsstube an den Vorsätzen "höllischen" lang; zumal der Gedanke an solches Alleinsein während der Weihnachtstage wollte ihm "gar nicht schmecken". In den letzten Jahren war er um die Zeit auf der andern Seite der Erde und vorher am Weihnachtsabend noch immer bei seinen alten, seitdem verstorbenen Eltern gewesen; er besaß einen starken Zug nach Familienzugehörigkeit, doch niemanden, um sich darin Genüge zu leisten, außer einem Bruder, und dieser hatte ihm grad' den Geschmack an einer Hausstandsbegründung verleidet. Nicht der Bruder selbst, aber die Schwägerin; sie war eine Beamtenfrau in einer kleinen Landstadt und ihm "zu gebildet und zu feinhäutig"; er blieb lieber aus der Stube, in der sie sich aufhielt, weg. So stellte er sich's allemal leibhaftig vor, wenn er irgendwo von einem "Hauskreuz" las, und das Übelste an der Sache war, dass man allein auf solche Manier zu Kindern kommen konnte, die er außerordentlich gern hatte. Im Hause seines Bruders befanden sich zwei derartige "kleine Taschenkrebse", die er erst einmal, noch in den Windeln, gesehen hatte. Nun mussten sie wie ein Paar junge Pinscher oder Teckel in der Stube herumwuseln, und durch diese Vorstellung war er in den Eisenbahnzug geraten. Er wollte als Onkel "die beiden Krabben" unterm Weihnachtsbaum sich um die Beine krabbeln lassen, die "hochnäsige Madame" dafür in den Kauf nehmen und hatte "so allerhand Kramzeug für die Gören" eingekauft, nachdem sie wohl vergnügt die Finger recken würden. Das war in dem Paket gut und wasserdicht "verstaut", und Thieme Godermann saß und malte sich die Überraschung der Kinder, seines Bruders und, mit einer unwillkürlich hinters Ohr greifenden Handbewegung, auch die seiner Schwägerin aus, wenn er unvermutet in der lichterhellen Stube dastehen würde. Na, mit einem ordentlichen Grog ließen sich die "pikfeinen Redensarten" der letzten wohl herunterspülen. Aber - Goddam - sein Bruder tat ihm leid, mit solchem vornehm aufgetakelten Galionbild segeln zu müssen, von dem sicher, wenn ihm mal `ne richtige Böe über die Nase schlug, nicht viel zum Staatmachen übrig blieb. Doch `ne gute Warnung war's, kein Frauenzimmer untern Bugspriet zu setzen. Über die Versuchung dazu war er nun ja auch darüber; nur so ein paar Krabben mit am eigenen Bord, das hätte doch etwas für sich gehabt - da draußen zwischen den Engländern, Portugiesen, Malaien, Chinesen und was es sonst gab. Wie vergnügt würden sie über einen so schlitzäugigen, bezopften Kerl lachen! Die kleine Oline, die hatte es ja gern' mal gewollt, aber das war ja damals nicht angegangen, und Gott mochte wissen, wo sie seitdem in der Welt geblieben war.

Manchmal schlugen durch den Lokomotivenrauch draußen rote Funken, aber seit ein paar Minuten nun sahen sie wie weiße aus. Ein Weilchen konnte man es noch für eine eigentümliche, von der schnell hereinbrechenden Dämmerung erzeugte Augentäuschung halten, allein dann war die ganze dunkle Qualmmasse von fliegenden weißen Pünktchen durchstickt, mit einem weißen Schleier überzogen und rasch ganz wie von einer weißen Riesenhand aus der Luft weggewischt. an dem nach Westen gerichteten Fenster des Wagens rizzelte es, als ob feiner Dünensand gegen die Scheiben geworfen würde, doch es kam nicht vom boden herauf, sondern von oben herunter, war der Gruß einer unabsehbar, fast schwarz heraufgeschleppten Himmelsmasse. Nun hielt der Zug an einer Station, die Tür ward aufgemacht, und der Wind schlug Wirbelschauer wie einen nassen Katzenschwanz über die Hände Thieme Godermanns herein. Doch nicht zum Missvergnügen desselben, denn er sagte: "Das gehört zu'n richtigen Weihnachtsabend und is mir lieber, als wenn es einem auf der Linie von der Stirn herunterleckt." - "Ja, dat kann ok en beten dick warr'n, Herr," antwortete der Schaffner, dem die Bemerkung gegolten; "dat kann hier mennimal höllisch flink gahn, de Wind drifft dat Tüg tosam un smitt dat oppe Bahn, wo se deep liggt. Denn sitt wi fast un könt us de Nacht dör inne Füst pusten. Do is gor nich vel Spaß dorbi, ick heff dat all satt nog kreegen."

Es ging weiter, zwei Bauernweiber waren ausgestiegen, und Thieme sah noch, wie der Wind sie draußen packte, zauste, ihnen die Kleider herumschlug und die Hüte rasch mit einer weißen Kruste überzog. Dann kam nichts mehr zum Vorschein, denn die Fensterscheibe wurde blind, dicht mit kleinen Schneesternen besprenkelt, darüber indes klebte es sich weicher und breiter, zeigte, dass sich der anfängliche hagelartige Niederschlag zum Gestöber großer Flocken umänderte. Bald ließ sich auch davon nur mehr ein matter Schimmer gewahren, es ward Nacht, mit Mühe unterschied der Fahrende noch die Zeiger seiner dickbäuchigen silbernen Uhr und streckte sich auf die Bank aus. Er hatte noch zwei Stunden bis zu seinem Ziel; da konnte man wohl am besten die Augen etwas zumachen. Ganz behaglich war's, wie in einer Koje; der Zug schlingerte auch schiffsmäßig ein bisschen herüber und hinüber, und der Wind verstand offenbar all' seine Pfiffe und Kniffe beinah' ebenso gut auf dem Land, wie auf der See. er winselte, klapperte mit dem Fenster, zischte durch Spalten und ritzen, heulte und rohrte draußen über der Heide oder über den klatschenden Wellen. Es war Thieme nicht ganz klar, was es sei. Nur fühlte er, dass die Brigg mehr und mehr mächtig zu stampfen anfing und nur langsam weiterkam. Das war ja ungeheuer gemütlich; bloß wär's ihm angenehmer gewesen, in Singapore nicht anzulegen, sondern in die chinesische See vorbei zu gehen. Denn in Singapore am Hafen stand seine Schwägerin, und das wusste er, es lief nicht anders ab, als dass sie ihn als erstes mit den Worten empfing. "Lieber Schwager, ich hoffe, sie haben sich doch noch mit etwas anderer Toilette versehen, denn wir sind durch unsere Umgangskreise verpflichtet, auch auf die äußere Reputation unseres Hauses einiges Gewicht legen zu müssen."

Fuhr er denn auf einem Steamer? Es pfiff ja auf einmal, und danach stand die Maschine plötzlich still. Da war etwas nicht richtig, das Schiff musste aufgelaufen sein. Er fuhr mit dem Kopf in schwarzes Dunkel in die Höh' und rief: "What's the matter?" Zugleich jedoch ward neben ihm die Tür aufgemacht, Windstoß, Flocken und Lichtschein von der Laterne des Schaffners zwängten sich mit und durcheinander herein, und der letztere sagte: "Nu hefft wi den Kram, awer es ja en leegen Spaß, min Frau un Kinners tövt to Hus up mi. Wüllt Se de Nacht hier in den Kasten sitten bliwen oder mit de annern in't Dörp? De Düwel schall datt witte Tüg halen! Rein as'n Dodenhemd."

Thieme hatte die Augen etwas verwundert aufgerissen, er war nicht an der Küste von Malacca entlang gefahren, sondern auf der Eisenbahn, die hier durch einen tiefen, bis an den Rand mit einer weißen Schneedecke eben zugestrichenen Einschnitt lief. Darin saß der Zug so fest, wie nur ein guter Schiffskiel auf der allereinsamsten Sandbank, und man sah auf den ersten Blick, dass fürs nächste an gar kein Abbugsieren zu denken war. Nebenan krochen ein paar in Mäntel gehüllte dunkle Gestalten aus dem Wagen, sackten sofort bis an die Hüften in Schnee und arbeiteten sich hastig mühselig auf den festeren Böschungsgrund hinauf. Der Seemann erfuhr auf sein Fragen vom Schaffner, es seien Handlungsreisende, die in dem Wirtskrug eines ungefähr eine halbe Stunde entfernten Dorfes übernachten wollten; er brauchte ein bisschen Zeit, sich den Fall zurecht zu legen, ob er es auch wie die Ratten machen und das Schiff verlassen solle, aber dann entschied er sich: "Na, denn man über die Barre ans Trockene zu!" nahm sein Paket und stapfte in den Schnee, den andern nach. Sie machten hurtige Beine, wie es schien beinah' Flügel, sahen zwei großen über den weißen Boden flatternden Krähen ähnlich. Droben peitschte der Wind und Schnee immer wieder von der Erde auf, so dass es nicht allzu schwierig fiel, hindurchzukommen, und Thieme Godermann ließ sich von der Umänderung der Sachlage nicht sonderlich anfechten. Das war so'n bisschen Havarie, wie sie im Leben wohl vorkam, auf konträren Wind musste man immer gefasst sein. Um die Krabben seines Bruders tat's ihm leid, aber ihre Meriten hatten die Sache doch auch, er kam richtig so an Singapore vorbei und ein kräftiges: "Höhja, luv up!" ausstoßend, kreuzte er gegen die "Steife Brise" vorwärts. Der Schnee beließ etwas Dämmerhelle, bald glimmerten auch ein paar Dorflichter, dann stand er, sich die Flocken abschüttelnd, in der Krugstube. Sie hätte gewissermaßen als Titelkupfer des Heidedorfes dienen können: niedrig, rauchig, mit einem schmutzigen Tisch, an dem die beiden Handlungsreisenden schon vor unsauberen, dampfenden Gläsern saßen. Es stellte sich heraus, warum sie als welterfahrende Jünger des schlauen Merkur ihre Füße so hurtig als möglich in die Hand genommen, denn sie hatten sich gemeinsam des einzigen zur Verfügung einräumbaren Alkovenbettes versichert und ergingen sich in diesem beruhigenden Bewusstsein in geistreichen Austausch über schon früher von ihnen großartig bestandene Reiseabenteuer. Dass zufällig heut Weihnachtsabend sei, ließ sie offenbar höchst gleichgültig, sie hätten ihn doch sonst irgendwo anders an einem Kneiptisch verbracht, hatten hier ihren Grog ebenso gut und fanden sichtliches Wohlgefallen an dem wechselseitigen, bereitwilligen Lachen, in das jeder über die witzigen Bemerkungen des anderen ausplatzte. Thieme trank ebenfalls, pflichtmäßig nach glücklich bewerkstelligter Landung, ein Glas Grog, sonst indes sagten ihm der Raum und die Weihnachtsgesellschaft wenig zu. Ihm hätt's freilich nicht viel gemacht, sich die Nacht auf eine Bank zu legen, aber er tat, als trüg' er Verlangen zu Bett zu kommen, und fragte den Wirt, ob sich nicht irgendwo im Dorf eins für ihn auftreiben lasse. "Dar is mi nich bekannt, dat kümmthier man rar vör," antwortete der Kruginhaber, "vellich bi de Swansen, de nümmt geern en beten wat mit un het all mol een ock bi fün Wedder ehr Bed vör de Nach hergewen." Es war eben nichts zum erstenmal Passiertes, dass der Zug drüben im Schneegestöber stecken blieb; Thieme fragte, wer die Genannte sei, und der Wirt meinte: "Ja, dat is wat snaksch, wie weet dat nich. Se wahnt all sit so'n Johr twee do günt in de lütte Rat, se seggt vun wegen ehr lütt Deern, de Doktor harr ehr dat vörschrewen, se muß' op't Land gahn. Awer dat geiht da man kümmerlich to, un so'n paar Schilligs, glöv ick, nimmt se wul geern mit." Einer der Merkurjünger drehte den Kopf und lachte: "Vermutlich ist sie früher zu sparsam gewesen, die nötigen Schillinge für einen Trauschein auszugeben." - "Nee, richti verheirat is se wul, se driggt en Ring anne Hand. Dat is ja ok en ganz orrentliche Person sunst; ick glöv meist eher, mit ehren Mann is dat war snaksch."

"Ja, dann kann man das ja `mal anlaufen, das ist doch besser, im Bett zu schlafen, wenn's angeht", sagte Thieme Godermann, den guten Vorwand ergreifend, für den Abend vielleicht aus der Krugstube loszukommen. Er ließ sich vom Wirt draußen die Richtung nach "do günt" hinüberdeuten und kam, durch einige Schneewehen stapfend, auch bald an die ihm beschriebene armselige Kate, vor der eine besonders hohe Wehe fast bis zur Mitte der Klinktür aufgestrichen lag. Die weiße, glatte Masse, die keine Fußspur zeigte, machte einen eigentümlichen Eindruck; sichtbarlich lag das Häuschen hier in dem weltverlassenen Heidedorf selbst noch wie eine einsame Insel, niemand war am Weihnachtsabend hineingegangen und niemand draus hervorgekommen. Der Schnee bildete einen weißen Wall umher; es kam dem Hinzutretenden unwillkürlich ins Gedächtnis: "As en Dodenhemd", hatte der Schaffner vorhin gesagt. Ein schmales, mit einem Tuch verhängtes Fenster ließ an den Ecken matten Lichtschimmer durchfallen, ein leise summender Ton kam dazu von innen heraus. Thieme klopfte an die Tür, doch niemand antwortete; so öffnete er sie selbst und stand auf einem dunklen Flur mit gestampften Lehmboden, nur eine Ritze wies die Stelle, wo die Stubentür sei. Der wind heulte jetzt sturmartig um das Haus, rüttelte am Dach und Fachwerk, ließ das Gebälk knacken, so dass die Bewohnerin auch das Klopfen an der Stubentür nicht vernahm oder nicht darauf achtete, es mochte ihr nicht in den Sinn kommen, dass eine Menschenhand bei ihr anpochen könne. Der Seemann öffnete deshalb auch hier selbst die Tür, blieb aber gleich darauf, ohne einzutreten, stehen und sah verdutzt vor sich hin.

Er hatte sich keine Vorstellung davon gemacht, was er in dem ihm für eine mögliche Nachtunterkunft gedeuteten Hause antreffen würde, oder jedenfalls es sich ganz anders gedacht, als das unerwartet vor ihm auftauchende Bild. In einer kleinen, niedrigen, einfach, doch nicht bauernmäßig, sondern mit einigen altmodischen städtischen Einrichtungsstücken ausgestatteten Stube sah ihm von der gegenüberliegenden Wand her ein kurzes Kinderbettchen entgegen, in dem ein etwa vierjähriges, blondhaariges, sehr blassgesichtiges Mädchen saß. Eine kleine, grünüberschirmte Lampe hätte den Raum nur wenig erleuchtet, doch dieser war hell von einem winzigen, auf einem an das Bett gerückten Tisch stehenden Tannenbäumchen, an dessen Zweigen einige brennende Wachslichtchen saßen. In das Gefunkel derselben sah das Kind mit großen, blauen unbeweglichen Augen hinein, während die Mutter, seine beiden mageren Händchen haltend, neben ihm saß, und dem aufhorchenden Mädchen leistönig ein altes Weihnachtslied vorsang oder mehr in halbsingenden Ton erzählte. Der Gegensatz dieses Bildes zu der Krugstube mit ihren Insassen konnte kaum auffälliger gedacht werden, und es war dem eben Herkommenden, als ob er ein Bild zu einem Weihnachtsmärchen vor sich sähe, das er als Junge einmal gelesen. Darin hatte ein Engel so am Bett eines kranken Kindes gesessen und diesem eine Bescherung gebracht; nur mit zwei weißen Flügeln an den Schultern, die fehlten der Sitzenden hier.

Das Aufgehen der Tür war jetzt doch von ihr gehört worden, so dass sie den Kopf umdrehte, und Thieme Godermann brachte, etwas mit der Zunge anstoßend, hervor: "Entschuldigen Sie vielmals, ich bin hier wohl ein bisschen unrichtig gekommen, aber der Krugwirt sagte mir - der Zug, mit dem ich gefahren, der steckt nämlich im Schnee fest - das ist `mal ein klein niedliches Mädchen, man bloß ein bisschen blass von Gesicht die kleine Person - ja, dann bitt' ich vielmals um Entschuldigung, dass ich gestört habe."

Die Frau war aufgestanden und sah ihm, begreiflich verwundert, wortlos ins Gesicht. Sie mochte so fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt sein und trug ein stark abgebrauchtes städtisches Kleid, das, wie alles um sie herum, von größter Dürftigkeit sprach. Auch das farblose und magere Gesicht tat's und redete wohl noch mehr von Kummer und verweinten Augen, aber trotz allem besaß es eine sanfte weibliche Zartheit und genau die blauen Augen des kleinen Mädchens, nur das hellblonde Haar des letzteren war bei der Mutter mehr nachgedunkelt. sie sah den Fremden noch immer, und mit den Augen suchend, an und erwiderte nun, wie es schien, um nicht stumm dazustehen: "Der Krugwirt - was hat er Ihnen - ?" Das war ja eigentlich zwecklos noch mitzuteilen; denn Thieme hätte ja um keinen Preis der Frau für die Nacht ihr Bett wegnehmen wollen. Aber er musste doch "aufklären", wie er denn so hierher gekommen sei, und antwortete deshalb, was der wirt ihm gesagt. Dabei befiel's ihn, während er's sprach, mit einem Schreck, sie könnte doch, um einen kleinen Verdienst zu haben, ihm ihr Bett hergeben wollen, und er setzte rasch hinterdrein: "Ich meinte natürlich nicht für die Nacht - bloß ob ich den Abend ein bisschen hier sitzen könnte - es wär' mir nicht langweilig gewesen, ich hab' Kinder sehr gern - und grad' am Weihnachtsabend -"

Wenn er verlegen sprach, so war die Frau nicht viel minder befangen. Sie stand, ihre Hände umeinander drehend, entgegnete ungewiss: "Ja, der Zug bleibt hier öfter - im Winter, wenn Schneesturm kommt -"

Es klang halb, als wolle sie dem Fremden nicht fortgehen lassen, suche nach etwas, um ihn zu halten. In ihr letztes Wort klang ein leiser Anruf: "Mama!" hinein, so das sie, abbrechend sich umwandte: "Was, Meta?" Noch leiser fragte die Kleine: "Ist das der Weihnachtsmann, Mama?"

Thieme Godermann fand es auf einmal in der Vorstellung ganz widerwärtig garstig in der rauchigen, schmutzigen Krugstube; hier war bei aller Ärmlichkeit alles so sauber und ordentlich. Er wusste eigentlich nicht, was er sagen wollte, aber es kam ihm von selbst in den Mund: "Das is mal en netter Name, Meta - kleine Meta - der passt ganz für sie -"

Während er so sprach, stieg ihm plötzlich etwas Helles in die Augen, und er setzte schnell hinzu: "Ja, das is wohl richtig - du bist ein klein kluges Mädchen, kleine Meta - der Weihnachtsmann, das bin ich und bin zu dir gekommen, weil du so artig gewesen bist."

Damit griff er nach seinem Paket, riss die "Vertauung" davon ab, wickelte hurtig zuerst eine in Papier verwahrte niedliche Kindertrompete heraus und sagte ans Bett hintretend: "Sieh mal kleine Meta, da macht man so drauf." Er blies, dass ein heller Ton durch die Stube flog, offenbar zu sprachloser Überwältigung der Kleinen; denn sie griff mit zitternder Hand stumm-hastig nach der Trompete, um zu versuchen, ob sie selbst ebenso das Wunder damit zu stande bringen könne. Wahrhaftig, es ging, fröhlich klang's über das Bettchen hin; sie begriff rasch, dass sie die Backen möglichst aufblasen müsse, und strengte sich atemlos an, immer stärkeren Ton herauszubringen. Aber das beunruhigte Thieme, so dass er, ein anderes Papier aufwickelnd, sagte: "Musst auch nicht zu lang, kleine Meta, das könnte deiner kleinen Brust nicht gut sein," und er hielt ihr eine Puppe in der Tracht der Vierländerinnen hin: "Sieh mal, so kommen sie in Hamburg mit ihren Körben auf den Markt; wenn's Sommer is, haben sie Gemüse und Blumen darin - den Strohhut kannst du ihr auch vom Kopf abnehmen - "

Es war ein höchst sonderbarer Vorgang in der kleinen Dorfstube, nur dem Kinde und Thieme kam nichts davon zum Bewusstsein: ihnen schien es so begreiflich und natürlich, wie die Phantasie eines kleinen und großen Kindes im Weihnachtsmärchen. Die Mutter des Mädchens dagegen blickte verwirrt, ohne Laut und fast ohne zu atmen drein. Unglaubhaft, wie ein Traumbild stand ihr's vor den Augen; doch sie sah, wie das blasse Gesichtchen im Bett sich freudig rötete, wie die Augen darin immer glückseliger glänzten, und beinah hielt sie ihren Herzschlag an, um den Wundertraum ihres Kindes nicht zu stören. Thieme Godermann aber saß nun auf dem Stuhl am Bett, ganz wie selbstverständlich, als sei er eingeladen worden, den Abend dazubleiben, und holte von Zeit zu Zeit, etwas neues aus seinem Paket heraus: "Sieh mal, kleine Meta - ich glaube, wir haben noch ein paar Lichter hier, denn die wollen nu ausgehen - das wär' ja schade." Und er holte ein Dutzend roter Wachskerzen hervor, klebte sie sorgfältig auf die an den Zweigen verlöschenden Stümpfchen, und das Tannenbäumchen warf strahlenderen Glanz als zuvor durch die Stube, dass die Kleine, wie berauscht von dem Anblick, in die Hände klatschte.

Auch die junge Frau hatte sich nun gesetzt und war sich offenbar schlüssig geworden, das Traumhafte als Wirklichkeit, das Unglaubliche als etwas, worüber sie nicht nachdenken wolle, aufzunehmen. So sprach sie jetzt auch halblaut: "Sie sind sehr freundlich und machen Meta und mich sehr glücklich, Herr - ." Es klang, als ob sie noch etwas beizufügen im Begriff gestanden, doch sie hielt es, die Lippen schließend, zurück, und er sah sie mit treuherzigen Augen an und antwortete: "Das is ja nich der Rede wert und muss ich ja dankbar sein, dass ich noch solchen Weihnachtsabend gekriegt habe." Er erzählte, wohin er eigentlich gewollt und warum er die Sachen in dem Paket bei sich gehabt; so sprachen sie nun hinüber und herüber, während die Kleine in Seligkeit zwischen ihren Spielsachen von einem zum andern griff. Thieme aber war's allmählich, als sei es ihm nie im Leben so zufrieden und schön zu Mute gewesen. Nur musste er darüber nachdenken, wie denn die Frau mit dem Kinde eigentlich wohl in das Dorf hierher käme. Sie musste aus der Stadt und aus einer guten Bürgerfamilie sein, das merkte man ja an allem, wie sie aussah und sprach. Wenn man sie sich mal genauer ansah, war das wirklich ein liebes Gesicht, bloß verhärmt und zu mager, wohl weil sie zu schlechte Kost hatte. Aber ein so gutes Gesicht und so fein dabei, und doch - Herr Gott, nein - von Hochnäsigkeit und französischen Kauderwelsch, davon war bei ihr ganz gewiss zu allerletzt die Rede. Das wäre eigentlich eine richtige Frau für seinen Bruder gewesen, dann hätte man gern zu ihm ins Haus kommen mögen. War das ein Unterschied, man sollte gar nicht glauben, dass zwei Frauenzimmer so anders in der Takelage sein könnten. Bloß war's bedenklich, ob sie auch wirklich dazu gehörte und nicht doch vielleicht ein Paar weiße Flügel unter dem Kleid hatte.

Auf einmal fragte das kleine Mädchen laut: "Mama, ist das der Papa?"

Die Angesprochene schrak leicht zusammen. "Nein, Meta -"

"Warum kommt denn der Papa niemals zu mir?"

Auch Thieme geriet durch die Frage aus seinem Nachdenken. Ja so, sie war ja schon verheiratet, ebenso wie sein Bruder, denn das war ja ihr Kind. Warum kam denn ihr Mann nie hierher, die Kleine kannte ihn ja offenbar gar nicht. Was hatte der eine in der Krugstube noch gesagt? Oder war sie vielleicht eine Witfrau?

Der Krugwirt hatte etwas von einem Ring geredet, und Thieme sah einmal auf die Hände der ihm gegenüber Sitzenden hinunter. Nein, sie hatte an keiner Hand einen Ring, und eine Witwe behielt den doch am Finger. Daraus war gar nicht recht klug zu werden, und danach fragen konnte er doch auch nicht. Das wär' ja furchtbar unzart gewesen.

Augenscheinlich aber hatte sie den auf ihrer Hand gerichteten Blick wahrgenommen, denn eine leise Röte stieg ins Gesicht auf. Sie zögerte noch einen Augenblick, dann sagte sie: "Sie wissen wohl nicht, was Sie von mir denken sollen, Herr Godermann -"

Der völlig unerwartet mit seinem Namen angeredete stutzte fast erschrocken auf: "Ja was - wie kann denn das möglich sein, dass Sie wissen, wie ich heiße?"

Ein leises, doch wehmütiges Lächeln ging ihr um den Mund. "Sie kennen mich natürlich nicht mehr, aber mir kamen Sie gleich bekannt vor und nachher wusst' ich's auch bald. Ich war noch sehr klein, als meine Eltern mit Ihren in Hamburg in derselben Straßen wohnten, und Sie mich öfter - Sie waren damals wohl eben Matrose geworden - auf dem Knie schaukelten und mir von dem großen Wasser erzählten - Oline Hellström - wenn Sie sich noch erinnern."

"Oline - Oline Hellström - mein Gott - die kleine Oline - das sind Sie? Nee, nu sieh mal einer an, was sind Sie groß geworden! Ja, weiß Gott, jetzt kenn' ich Sie auch wieder, das is ja ganz das niedliche Mädchengesicht. Das weiß ich noch wie heut', dass sie gern mit mir aufs Schiff gehen wollten, um das große Wasser auch zu sehen -"

Er sah sie beim Sprechen an, aber mit nicht recht sicherem Blick. Es war doch ein bisschen peinlich, denn nun war's ja klar, sie hatte Havarie gelitten und lag hier ohne Ring schlimm auf dem Land zu. So was passiert ja im Leben, aber man konnte doch nicht gut davon zu sprechen anfangen.

Doch wie sie vorhin seinen Blick verstanden, so schien sie jetzt auch seine Gedanken ihm abzulesen, denn sie sagte: "Schon seit zwei Jahren trage ich keinen Ring mehr, denn für mich bin ich nicht mehr verheiratet, obgleich mein Mann noch am Leben ist - "

Thieme entfuhr's: "Sie sind also doch verheiratet? Das is ja - ich meine, das wäre ja besser nich gewesen."

"Ja," nickte sie, "das wär's, aber ich wusst's erst, als es zu spät war." Man sah, es tat ihr wohl, einmal Leid und Not von Jahren durch Aussprechen vor einem teilnehmenden Hörer von ihrem Innern abzubürden, und sie erzählte, wie ihre Eltern sie früh als Waise in der Welt gelassen, dann einer um sie gefreit, und sie ihm in ihrer Verlassenheit ja gesagt habe. Aber er hatte sie nur aus gewinnsüchtiger Berechnung geheiratet, war kaum ein Jahr nachher mit ihrem ererbten Vermögen und einer gemeinen Dirne nach Amerika davongegangen und hatte sie mit dem kurz vorher zur Welt gebrachten Kinde hilflos zurückgelassen. Nur ein Häuschen, das er nicht mitnehmen konnte, war ihr geblieben, und sie hatte nie wieder von ihm gehört.

Thieme Godermann war allmählich dunkelrot im Gesicht geworden; nun ballte er beide Hände zu ein paar Fäusten zusammen und sprang auf: "Das is ja en ganz infamigter Kerl - wenn ich den mal wo getroffen hätte - !" Aber er erschrak und fügte leiser nach: "Die kleine Meta ist eingeschlafen - dass man sie bloß nich aufweckt, die kleine Person."

Sie hatte schon seit einigen Minuten das blonde Köpfchen auf das Kissen zurücksinken lassen und die Augen zugemacht. Doch in der einen Hand hielt sie noch fest die Puppe, in der anderen ein dickwolliges Schaf; ihre schmalen Wangen hatten sich das von der Freude heraufgerufene Rot noch fortbewahrt, und ab und zu zuckte es ihr im Schlafe mit einem Ansatz zum Lachen um den Mund. Der Seemann betrachtete sie und nickte dazu: "Ja, so sahen Sie damals auch gerade aus - darf ich "Oline" zu Ihnen sagen, wie damals? Nein, von dem Vater wollen wir nicht weiter sprechen, das bringt mich sonst in Aufregung. Aber das muss ein böser Wind sein, der gar nix Gutes weht. Sehen sie mal, Oline, sonst wär' ja die kleine Meta gar nich auf der Welt. Das wollten sie doch auch nich?" Nein, das wollte sie nicht, um keinen Preis, ihr Gesicht sprach's und ihre Hand, die vorsichtig nach der ihres glücklich träumenden Kindes fasste. Ihr selbst aber war's auch wie ein Traum und wie ein Glück, das zum erstenmal seit Jahren in ihrer Verlassenheit hereingekommen - ein Gesicht und eine Stimme aus ihren sorglosen Kinderzeit, die beide ihr altvertraut schienen, dass sie unwillkürlich die andere Hand zu Thieme Godermann hinüberstreckte und aus vollem Herzen heraus sagte: "O wie danke ich Ihnen, dass sie hier sind - was für ein schöner Weihnachtsabend ist das!"

Er hielt ihre schmächtige Hand vorsichtig wie etwas Zerbrechliches in seiner und stotterte ein bisschen: "Das wär' noch schöner, wenn Sie sich bedanken wollten, Oline, wo ich es noch nie so gut am Weihnachtsabend gehabt habe. Ich bin ja noch viel einsamer als sie - na ja, das hilft ja nix, davon zu sprechen - wissen Sie, daraus hätt' ich mir kein Gewissen gemacht, den schuftigen Kerl umzubringen, damit sie ganz und gar von ihm los wären. Aber das nützt ja zu nix, wenn er noch lebendig ist - da will ich lieber von etwas anderem anfangen, wie sie denn hier auf das Dorf hergekommen sind?"

Oline gab Antwort darauf. Sie hatte das ihr noch gebliebene Häuschen verkauft und war mit ihrem Kindchen hierher gezogen. Fraglos aus größter Not, um so billig wie irgend möglich leben zu können; doch mit zartem Gefühl verschwieg sie diesen zwingenden Grund, führte statt dessen an, die Brust Metas sei etwas schwächlich gewesen, und der Arzt habe ihr angeraten, mit der Kleinen aus der Stadt fort in Land- oder Wasserluft zu gehen, die wäre besser für sie.

"So Wasserluft?" wiederholte Thieme; "ja, die wäre ja gewiss gut für sie. So auf'm Schiff, da is man immer gesund auf der Brust. Ich hab' mir grade eins gebaut, einen hübschen Schoner, damit will ich, wenn's Frühjahr kommt, auslaufen. Einen Namen hat er noch nich -" Er sah nach dem Kindergesichtchen im Bett hinüber und fuhr mit einer plötzlichen Gedankeneingebung fort: "Weiß Gott, ich könn' ihn "Meta" nennen, das wär ein hübscher Name und bringt gewiss Glück. Und dann geben sie mir die kleine Meta den Sommer mit drauf, dass sie in die Wasserlust kommt."

Das Mitgefühl, die Herzenswärme, die schlichte höchste Menschengüte sprach aus seinen Augen, und sonderbar, im Gegensatz dazu überlief es Oline mit einem fröstelnden Schauer. Welch' warme, liebreiche Menschenbrust gab's in der Welt, und an welchen Elenden hatte sie unerfahren ihr Leben hingegeben! Ginge die Zeit doch noch einmal zurück dass sie's anders machen, sich besser behüten könnte! Sie musste den Kopf abdrehen, weil ihr Tränen zwischen die Wimpern quoll. Nein und doch auch nicht anders, denn sonst hätte sie ja ihre Meta nicht. Das brachte sie leis zitternd vom Mund, sie sei ihm von Herzen dankbar für seine Güte aber es sei ihr nicht möglich, sich von ihrem Kinde zu trennen.

Das sah er auch ein, es war ihm nur unbedacht so herausgekommen, und er sagte: "Nee, von der kleinen Person trennen, das können Sie ja auch nich, das seh' ich ja ein. Aber -"

Er blieb in dem, was er anknüpfen wollte, stecken und musste erst einmal etwas hinter seiner Ohrmuschel nicht ganz Befriedigendes mit der Hand in Ordnung bringen. Dazu brauchte es indes ziemlich viel Zeit, so dass die junge Frau ihn zuletzt augenscheinlich etwas verwundert und fragend ansah. Was ihm in den Gedanken gekommen war, hatte übrigens ja auch ganz seine Richtigkeit, und so äußerte er's nun: "Ich meinte bloß, weil Sie von Trennen sagten, Oline - warum haben sie nicht vor Gericht geklagt, dass sie von diesem schlechten Menschen geschieden würden - das wär' ja doch besser gewesen."

sie nickte. "Ja, gewiss; aber niemand weiß, wo er ist, und ein Advokat sagte mir, da sei's sehr schwer und würde viele kosten machen, die ich bezahlen müsste. Das hätte ich nicht können, es ist ja auch gleichgültig, ob ich seinen Namen noch führe oder nicht."

"Ja, gleichgültig bleibt sich das ja - es wär' ja bloß für den Fall, dass sie sich wieder - "

Thiemes Hand fand abermals etwas hinter dem Ohr zu tun. Diesmal hatte das, was ihm bald vom Mund gerate, wirklich wenig Sinn gehabt, sein Kopf suchte herum, etwas Vernünftigeres dafür an die Stelle zu setzen, und er fragte, sich die letzte Äußerung der jungen Frau dafür zu nutze machend: "Was für'n Name haben Sie denn jetzt eigentlich, Oline? Der Krugwirt sagte mir was davon, aber ich hab nich so darauf hingehört. Ich konnt' das ja nich ahnen, dass sie das waren."

Die Befragte antwortete, den Namen merklich nur mit Widerwillen aussprechend: "Swansen."

"Swansen, so? Ja, so was sagte der Krugwirt auch. Also Swansen heißt Ihr Mann, ich meine, der gottverdammte Lump. Man soll so was nich in den Mund nehmen und noch dazu am Weihnachtsabend, aber da kann man ja kein ruhiges Blut dabei behalten. Das is denn wohl einer von schwedischer Abkunft, wie sie das nach dem Namen Hellström auch wohl sind, und so is das denn unglücklich zusammengekommen."

"Ja, sein Vater war aus Schweden und er heißt selbst noch Jöns mit Vornamen."

"Was sagen sie? Jöns Swansen hieß er?"

"Ja, Jöns Swansen."

"Mit'n roten Kinnbart und so `ner großen Schramme hier über der Stirn?"

Thieme Godermann war von seinem Stuhl aufgesprungen und sah sie mit groß aufgeweiteten Augen an. Ebenso blickte sie ihm erstaunt ins Gesicht und antwortete: "Ja, das hatte er beides. Woher wissen Sie davon?"

"Herr Gott!" rief Thieme, den Schlaf der kleinen Meta im Augenblick völlig vergessend, "dann sind Sie gar nicht mehr Oline Swansen! Der Jöns Swansen is vorigen Oktobermonat in Baltimore in einem ganz schlechten Haus totgestochen worden. Ich kam grad dazu - nee, ich war nich in dem Haus - aber das gab `nen großen Auflauf davor her, und so hört ich davon und sah ihn selber tot daliegen. Da lässt sich ganz leicht ein Totenschein darüber kriegen." Er hatte in der Aufregung über die unerwartete Entdeckung wieder nach der Hand Olines gegriffen, die sie ihm in gleicher Erregung ließ. Ein Schreck tat sich wohl in dieser kund, doch keines des Schmerzes, sondern nur eines erlösenden freudigen Herzklopfens; das Kind aber war in seinem Bett halb aufgewacht, öffnete die Lieder und fragte mit einer traumhaften Stimme: "Ist der Papa jetzt da, Mama?"

"Nee, kleine Meta," sagte Thieme sich über sie bückend, "aber er kommt vielleicht bald - schlaf' man wieder, mein klein's Kind!" Auch die roten Kerzen des Tannenbäumchens waren lange abgebrannt, und nur die kleine, grünbeschirmte Lampe gab der Stube noch ein mattes Licht. Der Seemann saß nun wieder und berichtete weiter, was er noch über Jöns Swansen wusste. Er fürchtete offenbar, Meta wieder aufzuwecken, hatte deshalb seinen Stuhl dicht an den Olines gerückt und sprach nur halblaut. Ihre Hand aber hatte er dabei in seiner behalten, als tue es doch Not, dass er sie tröste, und sie schien dies auch natürlich zu finden, denn er war ihr ja altvertraut und hatte sie als Kind gar manchmal so an der Hand gehalten. Und so kamen sie, miteinander redend, von Amerika übers Meer nach Deutschland zurück und durch vergangene Zeit kehrte sie in die Hamburger Straße ein, wo sie einmal nachbarlich gewohnt, sprachen von seinen Eltern und von den ihrigen, von sich selbst und tausend kleinen Dingen, die sie sich wechselseitig aufweckten. Es gab so unendlich viel, was sie gemeinsam in der Erinnerung trugen, sie hätten es gar nicht für glaublich gehalten, immer noch wieder Neues. Eine Stunde um die andere konnte man unausgesetzt davon reden, wie es eigentlich mit der Zeit sei, wussten beide nicht mehr, aber daran brauchte man ja auch gar nicht zu denken. Immer wieder sagte Thieme im Gang des Gesprächs: "Ja, das is mir ja wie gestern, dass ich sie auf'm Knie schaukelte, Oline, und dass Sie gern mit auf das große Wasser hinaus wollten." Und einmal, wie er wieder daran gedacht, hielt er eine ganze Zeitlang danach den Atem an und fügte darauf hinzu: "Ja, nu könnte die kleine Meta am Ende doch wohl in die Wasserluft kommen, denn warum sollten Sie, nu es so ist, nich mit ihr an Bord gehen -" Hier musste Thieme Godermann erst einmal wieder sehr lange Luft holen, bis er es möglich machte, stotternd hinterdrein hervorzubringen: "Ja, getauft is der Schoner ja nich - wir könnten ihn - "Meta" wär' ja ganz hübsch - aber wir könnten ihn - vielleicht könnten wir ihn ja auch "Oline" heißen - das würd' ihm ja gewiss das meiste Glück bringen -" Die Hand ganz leis schmiegte sie sich an die treue, warme Hand, von der sie gehalten ward. Nun aber fuhr Thieme mit der seinigen in die Höh'.

"What's the matter?"

Draußen vor dem Fenster klang ein lauter Ruf: "Sünd se da drinnen?" Zweifellos galt das ihm, er trat rasch zur Tür hinaus, vor welcher der Schaffner stand und sagte: "Na, dat es man godt, dat ick Se noch sinn; kamen Se man gau, de annern sünd all vorut. Se hebbt en Sneeplog ut de Stadt herutschickt un de Bahn fri mackt; wie könt Damp upsetten."

"So, das is ja gut," antwortete Thieme Godermann; "na, dann fahren Sie man flink zu, dass Sie zu Frau und Kinder kommen. Ich bleib noch ein bisschen hier im Dorf, das is ja sehr nett hier. Gut' Nacht, wünsch ich, oder es is ja eigentlich Morgen. Na, da kommt es ja nich darauf an; ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mit Ihrem Kiel im Schnee aufgelaufen sind. Denn man die Schuten los! Good bye!"

Wilhelm Jensen, 1837 -1911